Es ist eine kleine Herbst-Idylle, in der sich die rund 2000 Schaulustigen am Dienstag wiederfinden. Vor ihnen liegt eine saftig grüne Wiese, umgeben ist sie von Bäumen, deren Blätter in allen Farben erstrahlen. Grün, gelb, rot, alles dazwischen. Der Wind fordert mit seichten Tönen zum Walzer auf, die Blätter tänzeln gefühlvoll vom Dach Richtung Rasen.
Mitten in diese Herbst-Harmonie schallt es plötzlich: "Shakhtar! Shakhtar!" Den anfänglichen Eindrücken zum Trotz ist es kein gemütlicher Spaziergang durch den Altonaer Volkspark, sondern ein Fußballspiel im Norderstedter Edmund-Plambeck-Stadion vor den Toren Hamburgs.
Für gewöhnlich kickt hier der Regionalligist Eintracht Norderstedt. An diesem Dienstag aber beherbergt die gemütliche Arena eine Partie der Uefa Youth League. Die U19 von Shakhtar Donezk hat den Nachwuchs des FC Barcelona zu Gast.
"Normalerweise ist es hier nicht so laut, zur Eintracht kommen immer nur ungefähr 400 Leute", berichtet ein Einheimischer. Diesmal sind es knapp fünfmal so viele, dabei steht ein Gast als Hausherr auf dem Spielberichtsbogen.
Grund dafür ist der Krieg in der Ukraine. Schon seit 2014, als Russland die Krim annektierte, hat Shakhtar Donezk kein echtes Zuhause mehr. Die Ostukrainer wanderten gen Westen, spielten unter anderem in Kiew. Seit dem Vorjahr ist dies in den internationalen Partien nicht mehr möglich. In der Vorsaison trat Donezk in Polen an, diese Saison in Hamburg.
So ist es zumindest bei den Profis, denn die U19, die international immer am selben Tag wie die erste Mannschaft antritt, muss eben in Norderstedt ran. Was selbst für Hamburger nach einem größeren Ausflug klingt, ist für eine beeindruckende Gruppe an ukrainischen Fans kein Hindernis.
Rund 250 Supporter füllen in Norderstedt einen ganzen Block. Optisch, denn akustisch fluten sie das ganze Stadion. Mit Gesängen, mit Trommeln, mit einer positiven Energie, die selbst notorische Miesmacher zum Hüpfen bringt. Diese Gruppe an Unermüdlichen war auch schon an Donezks erstem Spieltag in Deutschland dabei, berichtet ein Sprecher des Klubs. Viele von ihnen leben in der Nähe.
Und haben dadurch ganz offensichtlich eine gewisse Verbindung zu Deutschland aufgebaut. Denn kurz nach dem Anpfiff des Jugendspiels entrollen sie ein riesiges Banner, das sie abends auch zur Champions League mitbringen sollen. "Wir danken Deutschland für die geretteten ukrainischen Leben und die Unterstützung für unsere Verteidiger! Fußballspielen wie zu Hause!", steht dort geschrieben.
Ihre Dankbarkeit untermalen die Anhänger und Anhängerinnen zudem mit einem einfachen wie prägnanten Gesang. "Danke, Deutschland!", wiederholen sie mehrfach. Es gibt Applaus von allen Seiten für diese beeindruckende Choreografie.
Bis zum Abpfiff bleibt die Stimmung gleichermaßen positiv wie friedlich. Dabei verliert Shakhtar mit 0:3, kassiert eine Rote Karte. Obendrein jubeln die Barça-Youngster auch noch zweimal vor der ukrainischen Kurve. Den Fans ist das egal, das Ergebnis ist an diesem Tag bestenfalls zweitrangig.
"Es ist schön, den Verein endlich mal wieder live unterstützen zu können", erklärt ein 17-jähriger Fan, der aufgrund des Krieges nach Tschechien hatte fliehen müssen. Die Mannschaft, die er liebt, zuletzt aber immer nur auf dem Monitor hatte verfolgen können, endlich wieder zum Greifen nahe. Egal, ob das nun die U19 oder die Profi-Mannschaft ist.
Und so strahlt die positive Energie nicht nur in Norderstedt, sondern auch im Hamburger Volksparkstadion von den Rängen. Mit einem kleinen Fanmarsch transportieren die Shakhtar-Supporter die gute Stimmung gen Süden. Natürlich wieder mit Gesängen und vielen ukrainischen Fahnen.
Blau-Gelb ist an diesem Dienstag allgegenwärtig, schmückt Straßen wie Stadiontribünen. Es wird schnell deutlich: Hier geht es nicht nur um den Verein Shakhtar Donezk, sondern um das gesamte ukrainische Volk. "Ein Sieg wäre heute für alle Ukrainer grandios", erzählt ein Fan vor dem Anpfiff in der Königsklasse – nicht ahnend, was der Abend noch bringen sollte.
Diese Unterstützung wähnt er aber nicht nur bei seinem eigenen Verein, sondern auch beim nationalen Dauerrivalen Dynamo Kiew. "In der Liga will ich sie am Boden sehen, aber international ist das anders. Sie sind ein Teil der Ukraine, deshalb supporte ich sie", gesteht er.
Umso mehr gilt das aber natürlich beim eigenen Herzensverein. Obwohl die Fans diesen in den letzten Jahren immer seltener live zu Gesicht bekommen konnten, genießt er weiterhin einen ganz besonderen Status. So berichtet der 17-jährige Anhänger: "An meiner Verbindung zu Shakhtar hat sich nichts verändert. Ich liebe den Klub immer noch."
Die Liebe ist am Abend auch im Volkspark zu spüren, wo trotz einer Vielzahl an ukrainischen Fans die Barça-Sympathisanten in der Überzahl zu sein scheinen. Den Eindruck liefern zumindest Dutzende Trikots von Lionel Messi, Ronaldinho und Robert Lewandowski rund um das Stadion vom HSV.
In der Arena selbst dominiert dann aber doch wieder der blau-gelbe Gesamteindruck. Die kurzen und wenigen Barça-Rufe versanden, der harte, 250 Mann und Frau starke Kern der Donezk-Fans trommelt hingegen fast durchgehend. Das Rahmenprogramm läuft ohnehin auf Ukrainisch (und Deutsch).
Spätestens als Danylo Sikan die Gastgeber in Führung bringt, wird deutlich, wie die Sympathien verteilt sind. Mit Ausnahme des Gästeblocks jubelt das ganze Stadion, in dem sich an diesem Abend rund 49.000 Menschen versammelt haben. Als die Katalanen im zweiten Durchgang weiterspielen, obwohl ein Ukrainer am Boden liegt, gibt es ein gellendes Pfeifkonzert.
Trotz der vielen Barcelona-Trikots steht Hamburg am Dienstagabend hinter Shakhtar. "Wir fühlten uns wie zu Hause", strahlt Kevin Kelsy, dessen wegen Abseits aberkannter Treffer zum vermeintlichen 2:0 spät noch einmal für Ekstase gesorgt hatte, nach dem Schlusspfiff.
Im Gespräch mit dem verhinderten Torschützen wurde deutlich, dass sich Fans und Spieler zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag nicht einig waren: Das Ergebnis zählt doch. "Unser Ziel ist es, das Achtelfinale zu erreichen", sagt Kelsy. Dann gäbe es nach dem Spiel gegen Royal Antwerpen Ende November noch ein weiteres Heimspiel in Hamburg. Mindestens.