Sport
27.06.2018, 09:2027.06.2018, 09:30
constantin Eckner
Vor vier Jahren gewann die
deutsche Nationalmannschaft unter Joachim Löw den Weltmeistertitel. Aktuell
stolpert die DFB-Auswahl mehr schlecht als recht durchs Turnier. Nur ein spätes
Freistoßtor von Toni Kroos gegen Schweden hält die realistischen Hoffnungen an
den Einzug ins Achtelfinale am Leben.
Warum kann Bundestrainer Joachim Löw den
Erfolg von 2014 nicht kopieren?
Löw und Co-Trainer Thomas SchneiderBild: imago sportfotodienst
Das System von damals war auf
Stabilität ausgelegt und funktionierte gerade in den wichtigen KO-Spielen
einwandfrei. Zur Erinnerung: 2014 spielte Benedikt Höwedes als defensiver
Linksverteidiger. Im Mittelfeld sicherte Bastian Schweinsteiger hinter Toni
Kroos und Sami Khedira ab. Heute müssen sich die beiden Letztgenannten allein
um die Zentrale kümmern, was im Fall des Mexiko-Spiels nicht funktionierte. Auf
den Außenbahnen ist die deutsche Mannschaft nun offensiver und weniger stabil,
als noch mit Höwedes und Philipp Lahm.
Das deutsche Spiel ist das risikoreichste
Rein nummerisch spielt Deutschland
zusammen mit Spanien den risikoreichsten Stil. Nur zwei oder drei Feldspieler
sichern hinter dem Rest der Mannschaft ab, wenn diese sich den Ball in der
gegnerischen Hälfte zuspielt.
Dies geht gegen den Trend der WM, bei der die
meisten Nationen die Kontergefahr mit fünf, sechs oder sogar noch mehr Spielern
zu neutralisieren versuchen.
Brasilien und Frankreich sind für ihre Offensivpower bekannt. Warum ist ihr Spiel weniger risikoreich?
Weil bei Angriffen mehr Spieler hinter
dem Ball verbleiben und damit absichern. Bei den Brasilianern sind es zumeist
vier oder fünf. Bei Frankreich sogar gelegentlich noch mehr – gerade wenn Paul
Pogba und N’Golo Kanté aus der Tiefe aufbauen.
Dies vermindert vielleicht die offensive
Attraktivität des Turniers, aber es macht die Teams eben auch weniger anfällig.
Viele folgen der altbekannten Devise: "Defence wins championships!"
Unpräzise im Mittelfeld
Deutschland jedoch entwickelte
sich gegen den Trend. Löw möchte mehr Kontrolle und den Ballbesitz nutzen,
um die Gegner zu erdrücken. Denn solange die eigene Mannschaft den Ball hält,
kann der Gegner natürlich kein Tor erzielen. Kritiker benutzen dafür gerne den
Begriff Tikinaccio – einem Kofferwort aus Tiki Taka und dem italienischen
Catenaccio. Diese Strategie kann allerdings nur aufgehen, wenn Löws Mannschaft
im Spielaufbau keine Fehler begeht. Allein gegen Schweden waren es zwei
eklatante: einmal durch Antonio Rüdiger und der fatale Fehlpass von Kroos vorm 0:1.
Doch auch ganz strukturell wirkt
das deutsche Spiel zu unpräzise. Khedira hatte gegen Mexiko eine Passquote von
lediglich 79 Prozent. Nur Thomas Müller lag darunter. Dem sei dies aber als
Offensivakteur, der vor allem im letzten Spielfelddrittel in Aktion tritt, verziehen.
Nicht ganz grundlos entschied sich Löw gegen Schweden für Sebastian Rudy im
zentralen Mittelfeld. Der 28-Jährige mag manchmal wie ein Buchhalter auf der
Sechserposition wirken, aber er spielt nahezu fehlerfrei. Bis zu seiner
Verletzung brachte er alle seiner 17 Zuspiele an den Mann – davon elf nach vorn
gerichtet. Genau das braucht die deutsche Mannschaft.
Hier brach sich Sebastian Rudy die Nase:
Rudy fällt gegen Südkorea aus.Bild: picture alliance / sampics / Ste
Wer soll den verletzten Rudy gegen Südkorea ersetzen?
Khedira wäre trotz des
schwachen Auftritts gegen Mexiko immer noch eine vielversprechende Personalie
neben Kroos, die auch defensive Stabilität bringen kann. Dafür muss Khedira
aber wieder mehr Ballsicherheit ausstrahlen und besseres Timing im Verteidigen
haben.
Zu viele Angriffe versanden
Und trotzdem ist damit die
Anfälligkeit gegen Konter nicht komplett behoben. Zum einen bleibt die geringe
Absicherung ein Problem. Die Innenverteidiger finden sich viel zu oft in
Laufduellen im offenen Raum wieder.
Dies hat einerseits mit den Ballverlusten
und andererseits mit den vielen nicht ausgespielten Angriffen zu tun. Gegen
Schweden eröffnete Deutschland in der ersten Halbzeit 29 Mal das Spiel von hintenheraus,
schloss aber nur siebenmal mit einem Schuss ab.
Was hat das mit der Abwehr zu tun?
Selbst wenn der Schuss aufs
Tribünendach oder ins Seitenaus fliegt, kann sich die Mannschaft damit wieder
geordnet zurückziehen und aus der vorgesehenen Grundordnung heraus verteidigen.
Erzwingt der Gegner aber den Ballverlust im offenen Feld, was den Schweden in
insgesamt 16 Situationen gelang, erfolgt der Gegenangriff normalerweise gegen
eine ungeordnete Verteidigung.
Löw im Spiel gegen Schweden: "not amused"
Bild: imago sportfotodienst
Das aktuelle System würde also besser funktionieren, wenn die
Mannschaft mehr Zug zum Tor entwickelt und in Ballbesitzphasen den Rhythmus
gelegentlich erhöht. Eventuell könnte eine dribbelstarke Offensivreihe
bestehend aus Marco Reus, Timo Werner und Julian Brandt genau das bewirken.
Aufgrund der Dribbelstärke der drei genannten, könnten sich die
Mittelfeldspieler dahinter stärker zurückhalten und bei etwaigen Ballverlusten
absichern.
Oder zurück zum alten System?
2014 war dies noch anders. Die Deutschen
hatten einen aggressiven Zug zum Tor, aber die Absicherung und das
Gegenpressing – also das aggressive Verteidigen unmittelbar nach Ballverlusten
– funktionierten. Dies könnte beispielsweise wieder erreicht werden, indem Löw
vom 4-2-3-1 zum 4-3-3, das 2014 zum Einsatz kam, zurückgeht. Ein weiterer
Mittelfeldspieler würde die Grundstruktur des Teams verändern.
In diesem Szenario müsste Rudy (oder eben Khedira) hinter Kroos und einem weiteren Spieler absichern. Kroos selbst wäre durch die
höhere Positionierung dazu gezwungen, seltener nach hinten zu gehen.
Normalerweise taucht der Real-Madrid-Profi unablässig auf Höhe der
Innenverteidiger auf und kurbelt von links hinten das Spiel an. Aber, dass Kroos
auch weiter vorn spielen kann, zeigte er in der zweiten Halbzeit gegen
Schweden, als er Timo Werner auf dem linken Flügel unterstützte.
In einem 4-3-3 würden die
Deutschen etwas Präsenz in der Offensive aufgeben. Nur drei statt vier
Angreifer besetzen die vordere Linie, aber das Passspiel dahinter wäre durch einen
zusätzlichen Akteur sicherer und das Gegenpressing in Ballnähe könnte besser
greifen. Allerdings hat Löw in den letzten Jahren seine Mannschaft derart stark
auf das 4-2-3-1 ausgerichtet, dass ein Wechsel eventuell schwerer fällt, als es
im ersten Moment klingen mag.
Noch mehr über die Favoriten der WM:
Der FC Bayern muss auf seiner Suche nach einem neuen Trainer einen weiteren Nackenschlag hinnehmen: Am Donnerstagvormittag verkündete der österreichische Fußballverband, dass Ralf Rangnick nicht nach München wechselt und stattdessen Nationaltrainer bleibt.