Wie 1998: Die Ausgestoßenen Griezmann und Pogba sollen Frankreich einen
16.06.2018, 09:2016.06.2018, 10:29
Dominik Sliskovic
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Vor der WM 2018 ist in Frankreich alles beim Alten, oder? Angespannte politische Lage, hochveranlagte Spieler und ein
Nationaltrainer, dem seine Personalentscheidungen mächtig um die Ohren fliegen.
So wie momentan Didier Deschamps. Dass er Karim Benzema, zuhause
lässt, ist dabei noch verständlich. Der Real-Madrid-Stürmer, der auch
den algerischen Pass besitzt, gilt als nicht sonderlich förderlich für die Gruppendynamik und hat bereits wiederholt seine Verbundenheit zu seinem Geburtsland Frankreich in
Frage stellte.
Auf nahezu geschlossenes Unverständnis trifft da schon eher die
Entscheidung, Alexandre Lacazette (22 Torbeteiligungen in 39 Spielen bei Arsenal) nur
einen Platz auf einer elf Spieler umfassenden Longlist einzuräumen, deren
Protagonisten sich im Falle einer Verletzung im Stammkader noch den Sprung nach
Russland erhoffen können.
Didier Deschamps steht unter ErfolgsdruckBild: panoramic/imago
Dieses Konstrukt stößt insbesondere den betroffenen
Spielern sauer auf, bleiben sie so doch bis zu einem möglichen Ausscheiden
Frankreichs bei der WM im Unklaren. Das bedeutet auch: vorerst keine
Urlaubsplanung, stattdessen Privattraining und Überstunden im Kraftraum. Adrien
Rabiot, Mittelfeldstratege von Paris Saint-Germain, hat Deschamps bereits
entgegnet, dass er komplett auf ihn verzichten könne.
L'Equipe Tricolore 2018 – geschlossener denn je
Doch die öffentliche Suche nach Fehlern und Schwächen
scheint der französischen Nationalmannschaft 2018 nichts anhaben zu können.
Der
Kader wirkt geschlossener denn je. Das liegt auch daran, dass
sie bei der EM im eigenen Land 2016 im Finale an Portugal scheiterten.
Der ganz
große Druck, es zuhause allen Recht zu machen, ist weg, die gut 2.700 Kilometer
Luftlinie zwischen Paris und Moskau werden dem Kader gut tun. 2016 hat sich die "L'Equipe Tricolore“ vergewissert, was sie ihren Mitbürger immer noch bedeutet
und wozu sie immer noch in der Lage ist. Russland 2018 ist nun die große
Chance, das Vertrauen zurückzuzahlen.
Frankreich beweist Geschlossenheit: Pogba, Griezmann und DembéléBild: Panoramic/imago
Zwei
Spieler, die Frankreich anführen, sind Antoine Griezmann und Paul Pogba. Nicht
nur, dass beide außergewöhnliche fußballerische Fähigkeiten besitzen: Sowohl
Griezmann als auch Pogba repräsentieren zwei französische Minderheiten.
Antoine Griezmann – verstoßenes Vorbild
Griezmann vertritt die Nachfahren europäischer Immigranten.
Seine Großeltern mütterlicherseits stammen aus Portugal und flohen vor der
Salazar-Diktatur. Griezmanns Nachname, wiederum, klingt nicht nur deutsch, er
stammt auch aus Hessen, von wo die Vorfahren seines Vater einst ins deutsche
Nachbarland kamen.
Griezmann selbst zog es im Alter von 14 Jahren ins spanische
Baskenland, weshalb er in Interviews immer wieder erwähnt, sich in vielen
Lebenslagen mehr spanisch als französisch zu fühlen. Seine Vorliebe für einen
guten Mate-Tee ist ebenso bekannt wie sein Hang zu einer gepflegten Siesta.
Griezmann 2011 im Trikot von Real Sociedad.imago
Einen sportlichen Wechsel zurück in sein Heimatland schließt Griezmann nahezu
kategorisch aus, zu tief sitzt ein Stachel im 1,75 Meter großen
Offensivallrounders: Fast jedes bedeutende französische Fußballinternat lehnte
die Aufnahme des jungen Antoine ab, als Grund wurde stets seine schmächtige
Statur und sein geringer Wachstum angegeben.
Süß, Antoine Griezmann als Knirps.
Der kleine Antoine Griezmann kriegt ein Barthez-Autogramm
Es war der (französische) Scout
Eric Olhats des spanischen Erstligisten Real Sociedad San Sebastian, der auf
die unbestrittene technische Veranlagung des Jungen vertraute. Auch aufgrund der Dankbarkeit gegenüber seines
sportlichen Ziehvaters Olhat und seiner Eltern, die ihn zu all den
Probetrainings gefahren haben, zerreißt Griezmann sich in jedem Spiel für „Les
Bleus“ und beweist den Millionen Zuwandererkindern, dass er trotz dessen, dass
er bereits sein halbes Leben im Ausland verbringt, stolzer Franzose ist und
bleibt.
Paul Pogba – liberaler Muslim und Team-Player
Paul Pogba wiederum steht stellvertretend für einen
weltoffenen, liberalen Islam, den viele Franzosen aufgrund der von IS-Anhängern
und -Sympathisanten ausgeführten Anschläge aufgegeben haben. Denn auch wenn
sein exzentrisches Auftreten es nicht im ersten Moment verrät: der ehemals
teuerste Fußballer des Planeten ist gläubiger Muslim.
Paul Pogba wird oftmals auf sein extravagantes Auftreten reduziertBild: Panoramic/imago
Seine Vorbildsfunktion nutzt Pogba, um Menschen für seine
Religion zu sensibilisieren. Er verfällt dabei niemals in die Rolle eines
Missionars, sondern versucht lediglich Brücken zu bauen. Er weiht seine
Instagram-Follower in den Zauber der Hadsch ein, erklärt Interessierten die
Regeln des Ramadan und lädt Mitspieler ein, sich dem Kabinen-Gebetskreis
anzuschließen – unabhängig ihres Glaubens. Pogba ist klar, dass es solche
simplen Gesten sind, die Ängste und Vorurteile abbauen.
Griezmann
und Pogba sind die Gallionsfiguren einer Mannschaft, die an das anknüpfen kann,
was Frankreichs Weltmeister von 1998 für die zwischenzeitliche Einheit des Landes getan haben.
Frankreich in 1998: Die gleichen Probleme wie 2018
Dabei war die Vorfreude auf die Heim-WM 98 gedämpft.
Nationaltrainer Aimé Jacquet stand ebenso im öffentlichen Fokus wie es
Deschamps heute ist, die Politik unter Präsident Jacques Chirac hatte mit
nahezu identischen Problemen zu kämpfen, wie sie Emmanuel Macron momentan
umtreiben: vernachlässigte Vorstädte, Euroskepsis, Nationalismus.
Jacquet sollte 1998 alles verziehen werden, denn seine
Auswahl behielt den WM-Pokal nicht nur in Frankreich, sondern einte darüber
hinaus das Land. Wie ihm das gelang? Indem er Frankreich oftmals ungenutzte
multikulturelle Möglichkeiten vollkommen ausschöpfte: Er installierte mit
Lilian Thuram, Marcel Desailly und Bixente Lizarazu ein Abwehrbollwerk
guadeloupisch-ghanaisch-baskischer Herkunft, das dem armenisch-algerischen
Kreativzentrum um Youri Djorkaeff und Zinédine Zidane bedingungslos den Rücken
freihielt.
Zinédine Zidane wurde bei der WM 98 zum HeldenBild: werek/imago
Die etwas abschätzig „beurs“ genannten Zuwanderer der
Maghreb-Staaten hatten in „Zizou“ endlich jemanden, zu dem sie aufblicken
konnten, einen Star, der sich aus einer Marseiller Trabantenstadt zum
WM-Final-Doppeltorschützen hochgearbeitet hatte. Das 98er-Team bewies
Frankreich, dass es nicht bleu-blanc-rouge, wie die Farben der Nationalflagge,
sondern "black-blanc-beur" ist: eine Nation, die stolz auf ihre kulturelle
Vielfalt sein kann.
Frankreich 2018: Die Wiederholung der Geschichte?
Dass diese Leistung von damals nicht zu einer kitschigen
Erinnerung verwelkt, muss der Ansporn für die Mannschaft sein, die Frankreich
diesen Sommer in Russland repräsentiert. Mit dem aus Kamerun und Martinique abstammenden
Innenverteidiger-Duo Umtiti-Varane, der guadeloupisch-malisch-mauretanischen
Flügelzange Lemar-Dembélé, dem Korsen Deschamps auf der Trainerbank und eben
den beiden Rädelsführern Griezmann und Pogba.
Darauf hofft nicht zuletzt auch die Politik. Emmanuel Macron,
glühender Fan des Traditionsvereins Olympique Marseille, glaubt fest an die
Macht des Sports:
„Der Sport ist ein Mittel zur Emanzipation. Er bringt unsere Jugend zum Träumen und erlaubt vielen, ihren Platz im Leben zu finden."
Emmanuel Macron
Und so wie er 1998 den Migrantenkindern wieder den Glauben
an ihren Platz im Leben gab und half Ängste und Vorurteile ihnen gegenüber
abzubauen, kann der Sport, kann Fußball, auch 2018 Frankreich bereichern. Damit
Blau-Weiß-Rot wieder selbstverständlich für black-blanc-beur steht. Dieser
Sommer in Russland ist der beste Zeitpunkt, um Geschichte zu wiederholen.
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