2018 ist es an der Zeit, dass das eintritt, was vor 20 Jahren hätte passieren sollen.
1998 hätte Kroatien Weltmeister werden sollen. Doch Lilian Thurams Doppelpack (seine einzigen zwei Tore für Frankreich. In 142 Spielen.) verhinderten Kroatiens Finaleinzug. Und somit den Titel gegen einen bis zur Unterkante-Zahnlücke mit Medikamenten vollgepumpten brasilianischen Superstar Ronaldo.
Die "Reprezentacija" wurde in der jungen Republik zur Legende erhoben und mit seinen ikonischen Karo-Trikots zur nationalen Marke. Ein schweres Erbe, unter dem die stets talentierten kroatischen Spieler regelmäßig einsackten.
Von den nächsten neun Turnieren war Kroatien sieben Mal dabei. Fünf Mal war in der Vorrunde Schluss, 2008 im EM-Viertelfinale und im Achtelfinale bei der EM 2016. Ausgerechnet in Frankreich erwarteten nicht wenige den Titel.
Kroatien hatte eine bessere Mannschaft als 1998 zusammen, mit Starspielern wie Modrić, Rakitić und Mandžukić auf ihrem Zenit. Gegen Portugal scheiterten sie an der taktischen Unfähigkeit des Trainers Ante Čačić, 119 Minuten lang sich den Ball zu zu schieben, um mit zwei allein gelassenen Innenverteidigern in einen Konter zu laufen.
Der kroatische Fußballverbands-Präsident Davor Šuker und sein Partner in Crime Zdravko Mamić hielten an dem linientreuen Čačić fest. Nur um nach desaströsen Leistungen vor dem letzten Spieltag noch um die WM-Quali zu zittern. Für Šuker und Mamić war der Moment gekommen, die Marionette Čačić von ihren Bändern zu befreien.
Als Feuerwehrmann-Lösung wurde Zlatko Dalić präsentiert. Wenn ihr noch nie von dem 51-Jährigen gehört habt, geht es euch wie vielen Kroaten: Zuvor trainierte er sieben Jahre in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er mit Al-Ain Meister, Pokalsieger und Finalist der asiatischen Champions League wurde.
Doch Dalić ließ die Zweifel an seiner Eignung als Nationaltrainer schnell verstummen. In seinem ersten und gleichzeitig entscheidenen Spiel um die Playoffs in der Ukraine ist eine Szene exemplarisch. Ivan Rakitić lässt sich nach einer leichten Berührung zu Boden sinken, versucht den Tempogegenstoß der Ukrainer durch ein geschundenes Foul zu unterbrechen. Dass Dalić von solchen Mätzchen überhaupt nichts hält, macht er sofort deutlich: Er springt von der Bank, läuft zur Außenlinie und schreit den Barça-Star an, aufzustehen. Rakitić tut wie ihm aufgetragen wird.
Ein Ante Čačić, von dem überliefert ist, dass er sich bei Kabinenansprachen von Spielern ungestört ins Wort fallen ließ, hätte sich so etwas nicht getraut.
Kroatien gewann in Kiew überzeugend mit 2:0 durch zwei Tore des von Čačić verschmähten Hoffenheimers Andrej Kramarić. In den Playoffs wurden überforderte Griechen im Hinspiel ganz leicht geknackt (4:1) und im Rückspiel konsequent abgewürgt (0:0).
Der starke Charakter Zlatko Dalić hat in der kroatischen Mannschaft volle Unterstützung – besonders bei Führungsspielern wie Juventus-Sturmtank Mario Mandžukić:
Dalić sorgt mit seiner kommunikativen und ehrlichen Art für ein Gleichgewicht, das lange im kroatischen Kader der Individualtalentierten gefehlt hat. Den von Čačić geschassten Innenverteidiger Dejan Lovren nahm er ins Gebet, sich nicht über das Kollektiv zu stellen und reintegrierte ihn in die Nationalmannschaft.
Ihm gelang es auch, die aktuelle "Affäre Nikola Kalinić" kurz und knapp wegzumoderieren. Dalić hatte den Stürmer von AC Mailand aus dem Kader geschmissen. Die Begründung gab er kurz und knapp Journalisten am Trainingsgelände:
Damit entschärfte er ein mögliches Pulverfass und wusste damit die Mannschaft geschlossen hinter sich zu versammeln. Kein Spieler hat sich seitdem zu dem Thema geäußert, vielmehr betonen sie seitdem ihre Geschlossenheit.
Neben seiner zwischenmenschlichen Stärke schickt sich Dalić an, das größte taktische Enigma des kroatischen Fußballs zu lösen:
Vier Turniere lang saßen Kroatiens Nationaltrainer dem Irrglauben auf, eine Doppel-Sechs mit Rakitić und Modrić wäre die beste Einsatzmöglichkeit für zwei der weltbesten Ballverteiler. Doch besonders die Auftritte bei großen Turnieren zeigten, dass die beiden Stars von Real und Barcelona sich im defensiven Mittelfeld nur gegenseitig auf den Füßen stehen. Was Dalić gegen diese Verschwendung von Talent und Können tut, ist so simpel wie genial.
Beim souveränen 2:0-Auftaktsieg gegen Nigeria ging Dalićs Taktik sofort auf: Da sowieso jeder offensive Ball über das Gehirn Modrić läuft, zieht er ihn auf Mittelkreishöhe hoch. Damit ermöglicht er Rakitić als erste Anspielperson der Abwehr als Scheibenwischer zu agieren, zu dem er sich in Barcelona unverzichtbar gemacht hat: Rakitić entscheidet in erster Instanz über vertikales oder horizontales Spiel, er verschiebt mit seinen Bewegungen seine Offensive so marginal, dass die Schnittstellenpässe von Modrić dort ankommen, wo sie die Stürmer erwarten – und die gegnerische Defensive eben nicht.
"Ich lege großen Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen Spielern und will ihnen meine vollständige Unterstützung vermitteln", beschreibt Dalić selbstlos seinen Ansatz, der mit dem Ende des Rakitić-Modrić-Paradoxons erste Früchte trägt. ("Zeit")
Auch Dalićs Motivationsplan scheint voll aufzugehen. Er appelliert an die Ehre der arrivierten Kräfte um Luka Modrić, die sich endlich ihr Denkmal in Kroatien sichern wollen, wenn er sagt:
Er fordert aber auch die neue Generation auf, wach zu sein und ihre Chancen zu nutzen. Sei es Außenstürmer Ante Rebić, der mit seiner "Kampfschwein"-Mentalität und seiner Ausdauer an den aktuellen Co-Trainer Ivica Olić erinnert. Oder auch Andrej Kramarić, der unter Čačić nicht ins Team durfte.
Die kroatische Nationalmannschaft hat alle Zutaten für ein erfolgreiches Turnier:
Wo sich Kroatien 2016 nach dem Sieg gegen Spanien des Titels schon sicher war, schwebt nun Demut über dem kroatischen Lager. Demut, es allen Zweiflern endgültig beweisen zu können.
Auch nach dem herausragenden 3:0 gegen Vizeweltmeister Argentinien bleibt das kroatischen Team überraschend reflektiert und ruhig in seinen Äußerungen – was einmal mehr aln Zlatko Dalić liegt.
Lagen sich nach dem wunderschönen Schlenzer-Tor Luka Modrićs Spieler, Bankdrücker und Staff in den Armen, tigerte der Cheftrainer an der Seitenlinie mit unkontrolliert wedelnden Armen herum. "Bloß nicht übermütig werden, es ist noch nichts erreicht", machte Dalić seinen Kickern klar. Die verstanden und ließen durch Sprachrohr und Kapitän Modrić verlauten:
Es dürfte jedoch nahezu ausgeschlossen sein, dass die Spieler sich nicht von der Euphorie in ihrem Heimatland anstecken lassen. Die Bilder glückseliger, weinender Kroaten aus Zagreb gehen derzeit um die Welt. Verblüffend: Auch die Öffentlichkeit ist vorsichtiger mit Vorhersagen geworden, einige wenige trauen den "Kockasti" nach der Machtdemonstration gegen Messi und Co. dennoch direkt den Titel zu.
Der Traum lebt, auch weil Zlatko Dalić seiner Mannschaft gegen Argentinien wieder einen taktischen Masterplan an die Hand gab. "Messi wurde nach Hause geschickt", japste der kroatische TV-Kommentator Drago Ćosić ob des perfekt funktionierenden Defensivverbunds ins Mikro.
Schafft es Dalić auch nach dem vorzeitigen Achtefinal-Einzug die Motivation hochzuhalten und Jung und Alt zusammenhalten, kann Kroatien der ganz große Wurf gelingen. Lilian Thuram wird sie nicht mehr stoppen können.