Das Team, das Marokkos Auswahltrainer Hervé Renard für die WM in Russland nominiert hat, liest sich wie eine kleine Europaauswahl. Und so ist Marokko bei der WM weniger die fünfte Turnier-Elf aus Afrika als vielmehr das 14. europäische Teilnehmerland. Von den 23 WM-Spielern des Teams sind 18 in Europa geboren.
4 Fakten zur Mannschaft, zum Fußball in globalisierten Zeiten und zur (sinkenden) Integrationskraft des Sports.
Der große (linke) Historiker Eric Hobsbawm hat die integrierende Kraft einer Nationalelf so umschrieben. "Die vorgestellte Gemeinschaft von Millionen gewinnt mehr Anschaulichkeit in der Gestalt von elf Fußballern." Frankreich hat das mit seiner WM-Sieger-Elf 1998 und seinem aus Algerien stammenden Kapitän Zinédine Zidane vorgemacht, Deutschland folgte 2014 mit Miroslav Klose und Lukas Podolski (in Polen geboren), Mesut Özil und Sami Khedira (Eltern aus der Türkei beziehungsweise Tunesien) und Shkodran Mustafi (Kind albanischer Zuwanderer).
In Marokko ist das nun anders. Dort integriert der Fußball nicht Zugewanderte, sondern die Nachfahren der Emigranten. Ein Blick auf das WM-Aufgebot zeigt das:
35 Millionen Einwohner zählt Marokko, knapp 4,5 Millionen Menschen marokkanischer Abstammung leben in Europa. Unter ihnen hat der marokkanische Verband gezielt nach Talenten gefahndet. Und sie ins heimische Team gelockt.
Mit Erfolg. Marokko fährt zur WM in Russland. Und hofft auf die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft 2026 im eigenen Land.
Das war nicht immer so.
Youssef El-Akchaoui spielte in Deutschland für Union Berlin und den FC Augsburg. Er ist in Rotterdam aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Marokko. Die Hafenstadt hat mittlerweile mit Ahmed Aboutaleb einen Bürgermeister, der in Marokko geboren ist. Und El-Akchaoui, der Rotterdamer Junge, entschied sich 2008 dennoch für Marokkos Nationalelf. Auch, weil es sportlich damals für Hollands Team – immerhin Vize-Weltmeister 2010 – nicht reichte.
Seine damalige Erfahrung in der marokkanischen Elf hat er dem niederländischen Fußballmagazin "Hard Gras" erzählt.
Eine fußballerische Kulturdifferenz also. Die ist längst überwunden. Es geht um sportlichen Kulturtransfer. Marokkos Verband profitiert von den Fußballschulen der europäischen Topklubs:
Nur spielen sie nicht für Frankreich oder die Niederlande, sondern für Marokko, die Heimat ihrer Eltern. Was stimmt nicht, mit dem Sport, dem Ball und der Integration?
Fußballer sind fintenreich. Manchmal auch außerhalb des Platzes. Wenn Spieler nach einer Partie nicht reden wollen, halten sie manchmal ein Mobiltelefon ans Ohr. Am anderen Ende spricht niemand. Aber auch der Kicker muss nicht reden.
Hakim Ziyech, 25, kennt noch ganz andere Tricks. Der Mittelfeldmann ist in den Niederlanden geboren, er hat dort für die Erstligisten Heerenveen, Enschede und Ajax Amsterdam gespielt. Im Mai 2015 aber überkam ihn ein ungutes Gefühl.
Hollands Nationaltrainer Guus Hiddink hatte ihn in den Kreis des A-Teams geladen. Ein Freundschaftsspiel gegen die USA stand auf dem Programm und ein EM-Qualifikationsspiel gegen Lettland. Aber kurz vor dem Team in der A-Nationalelf der Niederlande plagte den wuseligen Offensivspieler Hakim Ziyech eine Verletzung. Er reiste ab aus dem Trainingslager. Und er sagte Oranje Adieu.
Im Oktober 2015 gab Ziyech schließlich sein Debüt für die marokkanische Nationalelf. Da stammen seine Eltern her. Ziyech sagt im schönsten Niederländisch im Gespräch mit der renommierten Zeitung "Volkskrant":
Marokko gewann zu Jahresbeginn die Afrikameisterschaft. Die Fans haben für die WM große Hoffnungen in ihr Team. Und in Hakim Ziyech. Der sagt:
Und wie ist das mit so vielen Spielern aus unterschiedlichen Ländern? Im Training gibt es mitunter niederländische und französische Grüppchen. Aber am Ende zählt das Team. Ziyech sagt:
Der Auftrag eines Trainers lautet immer Teambildung. Hervé Renard, 49, hat damit Erfahrung. In seiner Heimat Frankreich trainierte er den OSC Lille, in Afrika die Auswahlmannschaften Ghanas, Sambias und nun Marokkos.
Das Land träumt davon, die Fußball-WM 2026 auszurichten. Und Renard träumt davon mit seinem Team bei der WM 2018 zu überleben. Und wie ist das, mit einer Mannschaft aus neun Nationen? Die Kabinensprache ist Englisch, aber die beherrschen manche nicht. Dem großen Sportautor Simon Kuper von der "Financial Times" erzählt Renard:
Internationale Trainer sind keine Seltenheit in Afrika.
Und Afrikas Profis spielen ohnehin in den europäischen Ligen. Nun treffen also Trainer aus Europa auf Spieler aus Europa. Und die Fans? Haderten am Anfang mit dem Team der heimischen Legionäre. Vor allem bei Niederlagen. Der Gewinn der Afrika-Meisterschaft und die Qualifikation für die WM haben die Anhänger aber mit dem Team versöhnt. Und auch mit Renards neuen Methoden. Etwa damit, dass über dem Trainingsgelände jetzt Drohnen kreisen, um das Spiel zu analysieren.
Der Coach sagt zum Geheimnis der Arbeit in einem anderen Land:
In globalisierten Zeiten werden natürlich auch Fußballer internationaler. Der belgische Jungprofi Adnan Januzaj (23) weiß davon zu berichten. Der Profi hatte gleich vier Möglichkeiten, sich für eine Nationalelf zu entscheiden
Es ist im globaliserten Sport eben wie in der globaliserten Wirtschaft. Es gilt der Kampf um die besten Talente. Schließlich lief Januzaj für Belgien auf, auch bei der WM im Sommer.
Verglichen mit Januzaj hatte es Ibrahim Afellay fast einfach. Der Stürmer (Eindhoven, Barcelona, Schalke 04) aus Utrecht bekam 2007 binnen weniger Tage gleich zwei Einladungen fürs Nationalteam: eine aus Marokko (woher seine Eltern kommen) und eine aus den Niederlanden (wo die Familie lebt).
Anders aber als Hakim Ziyech zehn Jahre später entscheidet sich Afellay für die niederländische Nationalelf. Seine Entscheidung begründete er so:
Das klingt nach einer nüchternen sportlichen Abwägung. Längst bieten auch afrikanische Nationalteams professionellere Strukturen und sportliche Chancen.
Aber Marokkos Mulit-Kulti-Truppe sagt auch etwas über die schwindende Integrationskraft der europäischen Gesellschaften – auch im Sport.
Gerade in den Niederlanden (Heimat von fünf marokkanischen WM-Spielern) hat der Rechtspopulist Geert Wilders die Integrationsdebatte verschärft.
Der Amsterdamer Publizist Auke Kok ("1974: Wir waren die Besten.") hat sich intensiv mit marokkanischen Fußballern in Holland beschäftigt, auch mit ihrem Versagen. Er sagt watson.de:
Der Sport verliert seine Bindekraft. Das klingt nicht gut. Nicht für den Fußball. Und erst recht nicht für die Gesellschaft.