Weihnachtsstimmung in Marokko? Fehlanzeige. In dem nordafrikanischen Land steht aktuell alles im Zeichen des Fußballs. Wo normalerweise festliche Beleuchtung hängt, Menschen Geschenke kaufen und die ersten Weihnachtslieder in den Läden zu hören sind, hängen in diesem Jahr marokkanische Fahnen und es sind überall Fan-Gesänge zu hören.
"Es ist, als stünde das ganze Land vor Glück in Flammen", erzählt Maroua, eine junge Marokkanerin, im Gespräch mit watson. "Es gibt kein Covid, keine Inflation oder irgendetwas anderes – nur Fußball."
Ganz im Gegensatz zu Deutschland. Hierzulande können Fans nach dem Vorrunden-Aus der deutschen Nationalelf nun auch in die Vorweihnachtsstimmung starten.
Marokko steht zum ersten Mal in einem WM-Viertelfinale, als einziges afrikanisches und arabisches Land bei dieser WM und als viertes afrikanisches Land überhaupt – nach Kamerun (1990), dem Senegal (2002) und Ghana (2010). Im Halbfinale wären sie das erste afrikanische Land in der Geschichte der Fifa-Weltmeisterschaften. Dass Fußball ein ganzes Land vereinen kann, erleben viele Marokkaner zum ersten Mal. "Es ist verrückt, was Sport mit einem Land machen kann", sagt Maroua.
Eigentlich ist Marokko in Europa nicht gerade für seine Fußball-Vereine und Fan-Kultur bekannt. Ein paar wenige Klubs können eine über die afrikanischen Grenzen bekannte Fan-Szene aufweisen, Raja Casablanca ist der populärste Verein – auch auf kontinentaler Ebene.
Doch zur WM 2022 sieht es im Land anders aus – auch in Katar. Beim Spiel gegen Spanien hatten eindeutig die marokkanischen Fans das Stadion in der Hand. Vermutlich mitunter ein Punkt, der Marokko ins Viertelfinale befördert hat. Von den Spanier:innen hingegen war selbst beim Elfmeterschießen wenig von der Tribüne zu hören. Die marokkanischen Fans prägen die Stimmung in Katar maßgeblich, inklusive politischer Statements.
Während der Spiele jubelten die marokkanischen Fans und ihre Nationalmannschaft nicht nur mit ihrer Landesflagge, sondern auch mit der palästinensischen. Der Weltverband Fifa wertet diese Solidaritätsbekundungen vorerst nicht als politische Botschaft.
Auch in europäischen Städten machen die Fans Stimmung und sorgen mitunter für Verwüstung. Schon bei den ersten drei WM-Spielen der Marokkaner, bei denen sie einmal unentschieden spielten und zweimal siegten, kam es etwa zu Ausschreitungen in Brüssel. Dort gibt es eine große marokkanische Gemeinschaft.
Nach dem Viertelfinal-Einzug des nordafrikanischen Teams herrschte auf den Straßen Marokkos Ausnahmezustand. In den Ausgehvierteln war nachts an Schlafen nicht zu denken. Sogar der marokkanische König setzte sich nach Abpfiff in sein Auto und stellte sich – ganz ohne Security wie normalerweise – in die Menschenmengen, um mit ihnen zu reden, zu lachen, zu feiern. "Das war ziemlich heftig. Wir haben das noch nie so gesehen", beschreibt Maroua die Szene. Das ganze Land ist im WM-Fieber.
Maroua erzählt:
Marokko spürt, wie viele Fans das Land bei der WM in Katar unterstützen. "Wir haben das Gefühl, dass die ganze Welt hinter uns steht. Afrika, die arabische Welt, aber auch viele andere. Es ist so erfüllend, weil wir definitiv Außenseiter sind", erzählt Maroua.
Nachvollziehbar, dass Marokko die Fußball-WM auch gerne ins eigene Land holen möchte. Für die Austragung im Jahr 2026 ist der nordafrikanische Staat gescheitert. Dort werden erstmals 48 Mannschaften teilnehmen – im Länder-Trio USA, Mexiko und Kanada. Es war nach 1994, 1998, 2006 und 2010 der fünfte gescheiterte Versuch.
Für die WM 2030 wollen sie es nun erneut, ein sechstes Mal, versuchen. Womöglich im Verbund mit anderen Ländern, wie Algerien. "Auf Anweisung seiner Majestät König Mohammed VI. werden wir uns für die Ausrichtung der Weltmeisterschaft 2030 bewerben", sagte dazu Marokkos Sportminister Rachid Talbi Alami der französischen Nachrichtenagentur afp.
Doch zuerst geht es im Viertelfinale am Samstag gegen einen der großen Turnier-Favoriten: Portugal. Im vergangenen WM-Spiel der Portugiesen glänzte ausnahmsweise mal nicht Weltfußballer Cristiano Ronaldo. Er wurde erst in der 74. Minute gegen die Schweiz eingewechselt. Es war das erste Mal seit 2008, dass der Offensivspieler in einer Partie Portugals bei einem großen Turnier nicht in der Startelf stand. Stattdessen glänzte sein Ersatz Gonçalo Ramos mit drei Toren. Wenig spricht aktuell dafür, dass Ronaldo seinen neu gewonnenen Platz auf der Bank gegen Marokko räumen darf.
Trotz, dass sich Marokkos Torwart Bono, mit zwei gehaltenen Elfmetern gegen Spanien, und auch die Stars der Mannschaft, Sofyan Amrabat, Abdelhamid Sabiri und Achraf Hakimi, in die Herzen der Fans gespielt hat, wird es für die Marokkaner schwer werden, gegen Portugal zu bestehen – und als erste afrikanische Mannschaft in das Halbfinale einzuziehen.
Das wissen auch ihre Fans: "Oh mein Gott, ich bin so gestresst", sagt Maroua vor dem Viertelfinal-Spiel gegen Portugal.