Die aktuelle Staffel von "Sing meinen Song" bei Vox wartet mit einer Premiere auf, denn als erste Rapperin ist Nura in der Sendung mit am Start. Die 32-Jährige macht sich privat für Diversität und LGBTQ-Rechte stark, als Teil des mittlerweile getrennten Duos SXTN war sie musikalisch jedoch umstritten.
Der "Spiegel" erhob 2020 eine Datenanalyse zu sexistischen Texten im Deutschrap und legte ein Ergebnis vor, das zumindest auf den ersten Blick verblüffend ist: Die durchschnittlich meisten sexistischen Begriffen pro Song finden sich bei SXTN.
Der Vorwurf, sexistisch zu sein, begleitet den Deutschrap schon eine ganze Weile. Erst letztes Jahr lenkte die Kampagne #UnhateWomen der Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes den medialen Fokus einmal mehr auf das Problem. Ziel ist es, Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Texten, Songs, Posts oder Kommentaren über den Hashtag sichtbar zu machen.
Da gibt es einerseits Zeilen wie "Die Bitches heute wollen Jungfrau bleiben. Zwei Optionen – Arsch oder Mund auf, Kleines" aus dem Track "Dynamit" von Kollegah und Farid Bang, die Sexismus offen zelebrieren und auf Youtube ein Millionenpublikum finden. Auf der anderen Seite steht eine subtilere Form der Diskriminierung, die sich vielfältig auch in andere Musikgenres einschleicht, wie etwa den teils nur vermeintlich harmlosen Schlager.
Watson hat bei den Experten Nico Hartung und Marina Schwarz nachgefragt, um herauszufinden, wie es um sexistische Tendenzen in der Musik aktuell bestellt ist – er ist Deutschlands einziger Rap-Pädagoge®, sie Musikwissenschaftlerin von der Uni Leipzig.
Geht es darum, Sexismus in der Musik zu belegen, stößt die Statistik an ihre Grenzen, denn natürlich gilt es erst einmal zu definieren, welche Begriffe überhaupt unumstößlich sexistisch sind. Auch der Kontext, in dem sie verwendet werden, kann eine Rolle spielen. Wie verhält es sich beispielsweise mit Ironie und Satire? Oft ist der Interpretationsspielraum groß und Kunst gerade dann am faszinierendsten, wenn sie uneindeutig ist.
Hinzu kommen – mit Blick auf weibliche Projekte wie SXTN – Fragestellungen wie: Sind eigentlich sexistische Ausdrücke womöglich anders zu bewerten, wenn sie von Frauen beansprucht werden und sich plötzlich die Bedeutungshoheit verschiebt?
Grundsätzlich konstatierte der "Spiegel" für 2020 in seinem Bericht immerhin einen zahlenmäßig sehr starken Rückgang sexistischer Wörter im Deutschrap, aber ist das Problem damit gelöst? Sozialpädagoge Nico Hartung beobachtet aktuell eher eine Veränderung der Ausdrucksformen im Genre. Gegenüber watson erklärt er:
Nach Meinung des Experten geht es hier in Wahrheit auch schon lange nicht mehr um Glaubwürdigkeit, mit der sich viele Rapper weiterhin rühmen. "Ich glaube, dass Authentizität im Rap mit dem Beginn der 2000er Jahre gestorben ist", konstatiert er vielmehr.
Und weiter: "Immer mehr Künstlerinnen und Künstler lassen sich die Texte schreiben und kopieren und bedienen die Szene, um möglichst viel Profit aus ihr zu schlagen. Ich denke, dass es ausschließlich um Provokation und damit Verkauf geht und viele Rapper ihre Aussagen schlichtweg nicht durchdenken. Eine Verantwortung für die Texte ist im Mainstreamrap selten zu finden."
Auf der anderen Seite steht natürlich das Publikum, das nach Einschätzung von Hartung auch nicht zu Genüge kritisch über abwertende Zeilen nachdenkt. Die Grundlage für all das bildet aber erst der Sexismus, der schon in der Gesellschaft verankert ist. Hartung bringt diese Spirale auf den Punkt:
Der Pädagoge, der Rap-Lyrics auch in Workshops mit Jugendlichen behandelt, will das Genre daher auch keineswegs in seiner Gesamtheit verurteilen.
Im Gegenteil plädiert er dafür, Rap durch eine intensivere Auseinandersetzung auf Konsumentenseite besser zu deuten: "Viel zu oft muss Rap, als Sprachrohr der Jugend, als Sündenbock herhalten und oftmals wird Rap nicht mal wirklich verstanden, sondern zu leicht verteufelt. Ich würde mich freuen, wenn die Chancen von Rap mehr in den Fokus rücken würden und wir durch eine Reflexion der Songtexte auch die Güte dieser Kunstform verstehen könnten."
Toleranz für sprachliche Stilmittel kommt dabei sicherlich auch irgendwann ins Spiel. So hat Hartung nach eigenen Angaben zwar selbst so seine Probleme mit Satire, da Künstler sie gerne als "Schutzwand" nutzen, "um von dort aus radikal zu feuern", bekundet aber andererseits: "Ist es notwendig, Rap-Zeilen zu bringen wie: 'Es ist wie mit N*, nur ich selbst darf mich Schlampe nennen'? Ich denke nicht, aber da wir es gesellschaftlich als Kunstform anerkennen, müssen wir es auch ertragen."
Einfache Antworten erscheinen derweil weiter schwierig, zumal eine neue Studie einen klaren Zusammenhang zwischen Gangsta-Rap und diskriminierenden Standpunkten offenlegt. Studienleiter Marc Grimm spricht gegenüber der "FAZ" von einem "Einfluss auf die Wert- und Demokratiehaltung sowie die Diskriminierungshaltung" durch gewaltverherrlichende Texte. Auch zu frauenfeindlichen und chauvinistischen Einstellungen gebe es Zusammenhänge.
Musikwissenschaftlerin Marina Schwarz zieht inhaltlich eine Grenze an dem Punkt, an dem Songtexte beispielsweise Straftaten verherrlichen und meint auf Anfrage von watson: "Diskriminierung sollte meines Erachtens nicht von der Kunstfreiheit gedeckt sein." Dabei verweist sie auf eben jene Verantwortung der Künstlerinnen und Künstler, die wiederum Hartung im Rap momentan vermisst.
Auf ihrem Fachgebiet des Schlagers benennt Schwarz gleich mehrere Brennpunkte, was Sexismus betrifft, doch um diesen auf die Schliche zu kommen, fächert sie das Genre erst einmal in verschiedene Unterkategorien auf:
Die letztgenannte Schlagerart erklärt die Expertin für "offen sexistisch" und führt die Zeile "Geh mal Bier hol'n, du wirst schon wieder hässlich" von Mickie Krause als plastisches Beispiel an. Der 50-Jährige zählt zu den größten deutschen "Mallorca-Stars" und hat bei Party-Wütigen im Grunde leichtes Spiel, was Schwarz wie folgt begründet:
Da dieser Urlaub erlebnisorientiert ist, werden bedenkliche Texte des Party-Schlagers bereits von Grund auf kaum ernstgenommen, schließlich geht es auf Mallorca um Spaß und Eskapismus. "Die Musik findet in ihrer Reinform meist live in spezifischen Clubs statt, die Zuhörerinnen und Zuhörer sind meist stark alkoholisiert, weg von Zuhause und damit enthemmt – das ist keine Musik, die sich viele Leute beispielsweise daheim auf dem Sofa anhören", ergänzt die Musikwissenschaftlerin.
Jedoch gibt es auch bei anderen Schlagerformen Einbruchstellen für Sexismus, das äußere Bild ist laut Schwarz dann allerdings ein anderes, vergleichsweise gemäßigteres: "Es sind eher begrenzte Themen, die die Themenwelten für Frauen eher traditionell und damit klein halten: Liebesthemen, oder Narrative wie das der betrogenen Ehefrau, die ihn doch immer noch liebt, obwohl sie 'tausend mal belogen' wurde."
Indes hat die deutsche Schlagerwelt mit Helene Fischer seit Jahren einen gefeierten weiblichen Superstar, der Tor und Tür für mehr musikalische Emanzipation öffnen kann. Doch tut sie das auch wirklich? An der Stelle wirft die Expertin mehrere Blickwinkel auf. Fischer sei erfolgreich, selbstbewusst, schön, sportlich und wirke wahnsinnig freundlich bei ihren Auftritten und in ihren TV-Shows. Doch das ist nur eine Seite der Medaille.
Schwarz gibt zu bedenken, dass sich die 36-Jährige bislang nicht selbst als Feministin bezeichnet und generell kaum politisch geäußert hat. Bei ihren Songs fällt derweil auf: "Die Texte, die sie als lyrisches Ich singt, drehen sich oft einfach um Beziehungsthemen – allerdings ist das im Pop oft auch so und da wird es als weniger kritikwürdig empfunden." Positiv hervorzuheben sei in jedem Fall der "ganz und gar unheteronormative" Track "Regenbogenfarben", den die Sängerin mit ihrer Kollegin Kerstin Ott aufnahm.
Die Schlagerbranche spricht aber nicht nur durch die Musik im engeren Sinne, sondern auch durch die Umgangsformen mit beziehungsweise Erwartungen an ihre Künstler. Das sticht insbesondere bei Helene Fischer ins Auge, die gedanklich für viele immer noch fest mit Florian Silbereisen verbunden ist. Spricht er über sein Helene-Tattoo, das er sich bereits 2011 stechen ließ, sorgt das heute noch für romantisch-nostalgische Schlagzeilen. Für Marina Schwarz hat auch das eine gewisse Aussagekraft:
Insoweit legt Helene Fischer also zumindest indirekt Sexismus in der Schlager-Szene offen statt ihn einzudämmen. Wie dem ganzen Komplex langfristig beizukommen ist, bleibt die große Frage, die sich vermutlich gerade nicht automatisch mit mehr erfolgreichen Frauen in der Musik beantworten lässt. Schließlich können auch sie Sexismus produzieren, merkt die Expertin an.
Jedoch ist sie sich ebenfalls sicher: "Generell sind mehr weibliche Perspektiven durchaus gewinnbringend und sorgen für Vielfalt. So kann Sexismus auf Dauer weniger salonfähig werden, da Frauen eine Stimme bekommen."