Es ist die Regel, die immer wieder hervorgehoben wird: Der Eurovision Song Contest – kurz: ESC – sei unpolitisch. Das Event soll Länder zusammenführen, nicht spalten. Aus Konflikten hält man sich raus.
In Zeiten von politischer Anspannung und Kriegen konnte man den Realitätsbezug dieser Regel schon oft anzweifeln. Für das Jahr 2024 schien er sogar schon ab der Bekanntgabe der teilnehmenden Songs verloren zu sein: Auf das Lied "October Rain" von der israelischen Sängerin Eden Golan folgten laute Rufe, Israel vom diesjährigen ESC auszuschließen.
Eden Golans Song "October Rain", so wie er ursprünglich hieß, hatte erkennbaren Bezug zum 7. Oktober 2023. Etwa 1200 Israelis wurden an diesem Tag von den terroristischen Hamas getötet, 239 Menschen entführt. Als Reaktion folgte der Krieg in Nahost. Doch schon bald geriet Israel durch seine Art der Kriegsführung international in die Kritik. In Gaza kommt es zur humanitären Katastrophe, die viele tausend Tode zur Folge hat.
In mehreren Ländern, darunter auch das diesjährige Gastgeberland Schweden, haben Menschen zahlreiche Unterschriften gesammelt, um einen Ausschluss Israels vom ESC herbeizuführen. Dazu kam es nicht. Stattdessen hat die EBU – also die European Broadcasting Union, die den ESC veranstaltet – den Song umschreiben lassen. Die neue Version heißt "Hurricane" und soll unpolitisch sein. So wie der ESC.
Doch auch nach der Text-Änderung sorgt die Teilnahme Israels für massive Kritik und Proteste. Kurz vor Beginn des ESC hat der Nationale Sicherheitsrat Israels jüdischen Menschen empfohlen, eine Reise nach Schweden zu überdenken. Ein Großaufgebot an Sicherheitskräften schützt Sängerin Eden Golan, die ihr Hotelzimmer in Malmö so wenig wie möglich verlassen soll, heißt es im "Spiegel".
Da, wo der ESC für Einigung stehen soll, ist eine enorme Kluft nicht zu übersehen: Weltoffenheit auf der einen Seite, Genozid-Vorwürfe auf der anderen. Wie kann ein internationaler Wettbewerb hier noch unpolitisch sein?
"Ja, es hat Petitionen und Boykott-Aufrufe gegeben, aber die EBU und ihre Mitglieder haben kein Mandat, politisch gegen Israel vorzugehen", antwortet Dean Vuletic, der Kurse zum Thema "Eurovision" an Universitäten leitet, und das Buch "Postwar Europe and the Eurovision Song Contest" geschrieben hat. Auf die Frage, wie die EBU auf die Boykott-Aufrufe blickt, erklärt er:
Einen solchen Ausschluss wollte Israel vermeiden: "Hurricane", die neue Version des ESC-Songs, soll nun nicht mehr auf den Angriff der Hamas hindeuten, sondern von einer mentalen Krise handeln, die die Sängerin durchlebt.
Dass die Ursprungsversion "October Rain" eine Anspielung auf den 7. Oktober war, lässt sich kaum leugnen. Auch wenn der eher poetische Text viel Raum für Interpretationen gelassen hat: Allein durch den Titel war der Bezug eindeutig genug. Zudem schienen die Komponisten des Songs aus den Andeutungen kein Geheimnis zu machen:
"Wir wussten, dass wir über die israelische Situation schreiben würden. Wir haben versucht, es so subtil wie möglich zu machen, mit einem Subtext", zitiert das israelische Nachrichtenportal "Ynet" Avi Ohayon, einen der drei Komponisten.
Manche Menschen glauben jedoch, diesen Subtext auch weiterhin herauszulesen – auch wenn die Sängerin ihn zu keinem Zeitpunkt ausspricht. Beispiel: In dem Musik-Video zu "Hurricane" sitzt Eden Golan bei Nacht auf einer Wiese, während sich Tänzer:innen im Hintergrund impulsiv bewegen – fast so, als würden sie Schmerzen erleiden. Einige sehen darin eine Andeutung auf das Reʿim-Musikfestival, das am 7. Oktober überfallen wurde.
Der Text hingegen wurde nur unwesentlich geändert, was aber auch an dem vagen Charakter der Ursprungsversion liegt. Wäre nicht der Titel gewesen, hätte man wohl auch die erste Version schon in einem anderen Kontext verstehen können.
Die minimalen Änderungen kommentieren User:innen auf Reddit nun etwa folgendermaßen: "Das gibt mir ein Gefühl von: Wir haben es anders geschrieben, meinen aber das, was wir nicht sagen durften." Tut man der Sängerin mit solchen Äußerungen Unrecht? Nein, findet ESC-Experte Vuletic:
Aber wenn es "unvermeidlich" ist, einen Song politisch zu deuten, obwohl er bereits geändert wurde – verfehlt er dann nicht doch das Kriterium eines unpolitischen Song-Contests?
"Bei einem Wettbewerb, bei dem die Beiträge unter den Namen von Ländern erscheinen, wird es immer einen politischen Kontext geben, der die internationalen Beziehungen zwischen diesen Ländern widerspiegelt", erklärt Vuletic gegenüber watson. "Meiner Meinung nach geht es also nicht darum, einen Wettbewerb unpolitisch zu machen, sondern darum, die unvermeidliche Politik zu managen."
Die Regel, die immer wieder betont wird, der ESC sei unpolitisch, ist also falsch. Politik ist in einem internationalen Wettbewerb nicht wegzudenken, und hat laut Vuletic in der Geschichte der Eurovision schon immer eine Rolle gespielt: "In den letzten Jahren war es die Ukraine, die für die größte politische Debatte sorgte, jetzt ist es Israel. 2024 ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme."
Offen bleibt, wo die Grenze der "unvermeidlichen" Politik liegt, und ab wann diese überschritten ist. Und wie sehr das Weltgeschehen dann schließlich das Endergebnis beeinflusst – wie im Jahr 2022, als sich viele Länder mit der Ukraine solidarisierten – das ist dann die nächste Frage, die sich aufdrängt.