Die "Harry Potter"-Serie hat den größten Casting-Call der vergangenen Jahre ausgelöst. Hogwarts-Lehrkräfte, Schüler:innen, Eltern und Schurk:innen brauchen frische Gesichter.
Auf Social Media kursierten haltlose Spekulation und irrwitzige Gerüchte neben seriös von Branchen-Magazinen recherchierten Besetzungsenthüllungen.
Fast immer wurden die gehandelten Stars in Bildermontagen zusammen mit den altbekannten Gesichtern aus der Kinoreihe abgebildet. Adam Driver neben Alan Rickman als Severus Snape, Cillian Murphy neben Ralph Fiennes als Voldemort und so weiter.
Man stellte also das Neue dem gar nicht mal so Alten gegenüber.
So wurde den Fans eher versehentlich vor Augen geführt, dass das, was da ab diesem Sommer neu verfilmt wird, eigentlich ja schon existiert. Ziemlich gut sogar, ziemlich erfolgreich und ziemlich dominant im kollektiven Popkultur-Gedächtnis abgespeichert. Nach nur 14 Jahren kaum verblasst.
Was wiederum die Frage nach der Existenzberechtigung dieser Serie aufwirft. Wie und warum sollte man eine der beliebtesten Reihen der letzten Jahrzehnte überschreiben wollen?
Es gibt darauf keine nette Antwort. Diese "Harry Potter"-Serie ist leider eine richtig dumme Idee.
Millennials, die zum großen Teil mit "Harry Potter" aufgewachsen sind, dürften die Filme (nicht allzu mutig geschätzt) im Durchschnitt 25 Mal gesehen haben.
Deutsche Privatsender wiederholen die Reihe mehrfach im Jahr, bei Netflix entern die Filme die Charts, sobald sie meist um den Herbst herum in den Katalog aufgenommen werden.
Die "Harry Potter"-Serie stand von vorneherein und vollkommen zu Recht unter einem enormen Existenzrechtfertigungsdruck.
Und, jetzt wird es lustig, diesem Druck glaubten die Verantwortlichen von Warner und HBO mit folgendem Versprechen begegnen zu können: Eine "treue" Adaption der Bücher wolle man bieten, hieß es in einem offiziellen Statement bei der Bekanntgabe des Projekts vor zwei Jahren.
Treuer als die Filme schwang da mit, obwohl die acht Kino-Teile nun nicht gerade für eine exzentrische Auslegung des Quellmaterials berüchtigt sind – von einigen schmerzhaften, aber aus rein logistischen Gründen nachvollziehbaren Weglassungen mal abgesehen.
Dieser Vorlagen-Militantismus wollte auch so gar nicht zur Denkschule des Networks HBO passen, wo die Serie entsteht. Die Verantwortlichen genießen hier einen Autorenstatus, literarische Vorlagen werden meist eher als lose Denkanstöße betrachtet – und eben nicht als Styleguides, an die man sich sklavisch hält.
Zudem beraubte man sich mit dem Treuegelübde einer günstigen Gelegenheit, Distanz zur zunehmend umstrittenen J.K. Rowling aufzubauen, die auch hier als Producerin fungiert. Eine weitere Baustelle. Der Fragenkatalog an dieses Serienprojekt ist lang.
Widmen wir uns der drängendsten: Warum glaubten Warner und HBO, die "Harry Potter"-Serie dem anvisierten Zielpublikum mit der Aussicht auf eine witzlose 1:1-Abbildung der Bücher schmackhaft machen zu können? Und nicht, zum Beispiel, mit dem Versprechen einer radikal neuen Version?
Die Ankündigung der "Harry Potter"-Serie folgte auf den dritten Teil der "Fantastische Tierwesen"-Reihe, die nach einem verhaltenen Beginn schließlich in Richtung vollkommener Irrelevanz geschlittert war.
Man brauchte nach dieser Fehlzündung eine sichere Nummer. Man brauchte Fanservice. Und eine Serie mit Harry, Ron und Hermine wird immer erfolgreicher sein als ein Spin-off über einen Magiezooolgen, auch wenn man die Geschichte schon 30 Mal erlebt hat. Irgendjemand wird das schon schauen.
Deshalb diese feierliche verkündete kreative Ambitionslosigkeit. Aber irgendwas ist in den letzten zwei Jahren passiert. Vielleicht war den verpflichteten Showrunner:innen der ausgegebene Ansatz von HBO zu langweilig.
Mark Mylod und Francesca Gardiner waren an "Succession" beteiligt, einem Kritikerliebling und Emmy-Verschlinger. Diese genialen Köpfe werden nicht zehn Jahre ihres Lebens an eine "treue" Kinderbuch-Adaption verschwenden. Sie haben einen Ruf zu verlieren.
Von Fanservice kann bei dem kürzlich bestätigten ersten Besetzungsschwung jedenfalls eher keine Rede sein. Neben den so weit erwartbaren Nick Frost (als Hagrid) oder John Lithgow (als Dumbledore) sticht ein Darsteller heraus.
Paapa Essiedu ist Brite und schwarz, seine Familie stammt aus Ghana. Der 34-Jährige wird die Figur Severus Snape spielen, den hasserfüllten Zaubertranklehrer, der Harry Potter das Hogwarts-Leben aus mysteriösen Bewegggründen schwer macht. Er ist eine Kernfigur der Reihe, so viel sei hier verraten.
In den Beschreibungen der Rowling-Bücher wird Snape recht eindeutig als weiß charakterisiert. Das ist wichtig, weil viele Fans die Bücher als quasi historisches Quellmaterial betrachten, dem man sich mit dem Casting entsprechend anzunähern habe, was natürlich Schwachsinn ist.
Adam Driver hätten sich viele gewünscht, weil der wie eine hottere Version des ersten Snape-Darstellers Alan Rickman aussieht. Fan-Castings halt, muss man nicht ernst nehmen.
Es gibt jetzt viel Kritik an dem Casting Paapa Essiedu und da ist leider auch der inzwischen übliche Rassismus bei.
Trennen muss man all das von den berechtigten Einwänden dahingehend, was das "farbenblinde" Casting mit der Figurenstatik von Severus Snape so anstellen könnte.
Punkt eins: In den späteren Teilen taucht die Buchserie in die Jugend von Snape ein, der zusammen mit Harry Potters toten Eltern zur Schule ging. James Potter sowie eine Clique aus Harrys jetzt erwachsenen Bezugspersonen Remus Lupin und Sirius Black mobbten Severus Snape.
Diese Mobbing-Szenen könnten durch die Besetzung Snapes mit Paapa Essiedu eine zusätzliche Rassismus-Dimension erhalten, die so im Buch natürlich nicht existierte.
Punkt zwei: der Mann sieht wirklich zu gut aus für die Rolle. Das gilt, mal so nebenbei, für Adam Driver ebenfalls.
Gut, und jetzt stellen wir den Meckermodus mal aus und spinnen ein bisschen rum.
Remus Lupin und Sirius Black, die sich in der Serie mit ihrer rassistischen Mobber-Vergangenheit auseinandersetzen müssen? Das klingt bei näherem Hinhören eigentlich ganz spannend. Derlei Themen umkurvten Bücher wie Filme. Es gab bisher schlicht kaum größere, nicht-weiße Figuren.
Und: Ein hübscher Snape wäre natürlich gewöhnungsbedürftig. Es gibt genug gutaussehende Menschen in der "Harry Potter"-Welt. Andererseits hat Alan Rickman der Figur ein Denkmal gesetzt, das unmöglich zu übertreffen ist.
Jeder neue Dreh ist hier willkommen und wenn das heißt, dass Severus Snape plötzlich mit Madame Sprout flirtet – okay!
Dieses Casting, so riskant es wirken mag, wird für Reibung sorgen, für Disruption in dem Altbekannten, dem sich die Serie ursprünglich verschrieb. Das Projekt braucht mehr davon, denn mit einem Sicherheitskurs wird man nicht weit kommen.
Die "Harry Potter"-Serie bleibt ein rätselhaftes Projekt, die fixe Idee eines Studios, das seine nervösen Aktionäre mit einem garantierten Hit beruhigen wollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kopfgeburt sich doch eine Daseinsberechtigung erarbeitet, ist nun ein wenig gestiegen.