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Seit Wochen stehen ernste Vorwürfe gegen den Sänger Till Lindemann im Raum und das ausgerechnet, während eine große Rammstein-Tour durch Europa in vollem Gange ist. Im Juni machte die Band zunächst in München Station und vorab wurde mit Spannung erwartet, ob Lindemann die Anschuldigungen auf irgendeine Weise direkt auf der Bühne thematisieren würde.
Dies war zwar beim ersten Konzert zwar nicht der Fall, jedoch wurde bei der Setlist eine vielsagende Änderung vorgenommen: Aktuell spielen Rammstein nicht mehr den Song "Pussy", zudem wurde eine Einlage mit einer riesigen Penis-Kanone gestrichen. Mit anzüglichen Posen hielt sich der Sänger generell zurück. Später gab es eine Andeutung von Lindemann: "Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter. Glaubt mir, das andere wird auch vorbeiziehen."
Bei den drei zurückliegenden Berlin-Shows ging der 60-Jährige, der seine Unschuld über seine Anwälte beteuern ließ, jetzt recht deutlich in die Offensive. Sein Umgang mit den Anschuldigungen auf der Bühne war diesmal eine absolute Katastrophe.
In Berlin formulierte Lindemann gleich zweimal einen Liedtext von Rammstein um. Samstags sang er bei "Angst" die Zeilen "Die Rücken nass, die Hände klamm – alle haben Angst vor Lindemann", am Sonntag lieferte er bei "Ohne dich" sogar eine Sex-Anspielung, indem er die Lyrics des Songs zu "Und die Sänger vögeln nicht mehr" verdrehte.
Bei der letzten Berlin-Show am Dienstag war es dann eine Ansage am Ende, die aufhorchen ließ. "Danke, dass ihr da wart und denkt dran: Bösen Zungen glaubt man nicht, die Wahrheit kommt immer ans Licht", sprach Lindemann zum Abschied ins Mikrofon.
Immer wieder also thematisierte er die Vorwürfe gegen sich auf eine sehr spezielle Art und Weise – in sozialen Netzwerken wurde vor allem die Text-Änderung bei "Ohne dich" als geschmacklos bewertet. Viele Fans hingegen stehen weiterhin hinter dem Frontmann, manche feiern seine jüngsten Bühnen-Aktionen sogar als besonders kreativ.
Rammstein ist seit jeher eine Band, die Grenzen austestet und von der Provokation lebt. Gerade dieser Umstand lässt derzeit im Zuge der Vorwürfe gegen Lindemann die schon sehr alte Diskussionen rund um die Trennung zwischen Werk und Kunstschaffendem wieder aufleben, denn Lindemann ist nicht nur Sänger, sondern auch Texter der Gruppe.
Seine jüngsten Bühnen-Aktionen liegen in jedem Fall auf einer Linie mit dem Image der Band, gerade auch in ihrer Plumpheit – dass der Sänger dafür neben Kritik eben auch Applaus erntet, überrascht bei konsequenter Betrachtung demzufolge auch nicht wirklich. Und natürlich provoziert Lindemann ausgerechnet bei den Konzerten in Deutschland, wo am meisten über die Anschuldigungen berichtet wird.
Umso mehr Fragen werfen rückblickend aber die Konzerte in München auf. Warum wurde zunächst die Penis-Kanone gestrichen, wenn Lindemann in Berlin jetzt doch für äußerst fragwürdige Momente sorgt? Nach den Shows in der bayerischen Hauptstadt deutete zunächst alles darauf hin, dass Rammstein die Stimmung nicht weiter anheizen möchte und die Band stattdessen nur routiniert ihr Programm herunterspielt.
Doch falsch gedacht. Jetzt sorgt Lindemann auf dem Rücken der Vorwürfe eben doch ganz bewusst für Schlagzeilen – womöglich auch, weil er durch die Konzerte in München realisiert hat, wie groß der Rückhalt in der Rammstein-Community wirklich ist.
Zwar waren zwischenzeitlich wieder einige Konzertkarten beim offiziellen Eventim-Fansale zu haben, nennenswerte Lücken im Stadion taten sich letztlich aber nie auf – und die Stimmung war teils sogar noch euphorischer als sonst. Bei nicht wenigen Fans herrscht aktuell eine "Jetzt erst recht"-Stimmung, Lindemann und seine Anhänger:innen schaukeln sich gewissermaßen gegenseitig hoch.
Es wäre in der aktuellen Situation ein Zeichen von Anstand, zumindest Sex-Anspielungen auf der Bühne zu unterlassen, doch für diese Haltung ist Till Lindemann nun einmal nicht berühmt geworden. Dass er seine Bühnen-Attitüde nicht nachhaltig hinterfragt, ist aber kein Zeichen von Stärke – sondern vielleicht einfach nur kindisch und dumm.
Nachtrag der Redaktion: Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte im Juni nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann Ermittlungen aufgenommen. Diese wurden Ende August eingestellt. Die Auswertung der Beweise habe keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Den entsprechenden Artikel findet ihr hier.
