"Eine halbe Million Euro", sagt Vera Int-Veen mit verkniffener Miene. Halb streng, halb vorwurfsvoll blickt sie die Hartz-IV-Empfänger Klaus und Bettina an, während sie ihnen mitteilt, wie viel sie den Staat in zusammengezählt 30 Jahren Arbeitslosigkeit gekostet haben.
Klaus und Bettina blicken leer vor sich hin. Klaus zuckt leicht hilflos mit den Schultern. Was sollen die beiden denn auch antworten auf die Rechnung der Moderatorin, die in ihrem Leben noch nie einen Hartz-IV-Bescheid gesehen hat, wie sie nur wenige Minuten zuvor zugab?
Mit der neuen Armutsshow "Vera unterwegs" hat RTL eine Sendung entwickelt, deren Konzept nicht ganz neu ist: Die Fernseh-Moderatorin Vera Int-Veen wird auf Reisen in die ärmsten Gegenden Deutschlands geschickt, um sich die Geschichten der Bewohner anzuhören. Der Armut soll so "Gesicht verliehen" werden, wie es auf der Seite von RTL heißt.
Eine ähnliche Sendung gab es vergangenes Jahr schon mal: 2018 zog Ilka Bessin durch Deutschlands Großstädte, auf der Suche nach der Armut. Einziger Unterschied: Ilka Bessin war irgendwie nett.
Vera Int-Veen beleidigt die Protagonisten, und das fortlaufend. Soll das etwa eine konstruktive Darstellung sozialer Ungleichheit in Deutschland sein? Wohl kaum.
Auf Feingefühl der Moderatorin wartet der Zuschauer hier vergeblich. Eher scheint sie den Protagonisten, die teils tatsächlich in erschreckenden Verhältnissen leben, ihre eigene Weltsicht aufdrängen zu wollen. Wie zum Beispiel im Fall von Klaus und Bettina.
So ist Klaus seit 25 bis 30 Jahren arbeitslos, genau kann er das nicht sagen. Er ist Analphabet – dass er deswegen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt erfährt, liegt eigentlich auf der Hand. Laut der Studie "LEO 2018 - Leben mit geringer Literalität" sind gerade einmal 62,3 Prozent aller Menschen mit Lese- und Schreibschwäche berufstätig.
Bettina wiederum leidet an einer Reihe gesundheitlicher Probleme: Sie hatte mehrere OPs an den Hüftgelenken, einen Bandscheibenvorfall und Asthma.
All diese Leiden werden natürlich nicht besser, wenn man zu Hause sitzt, raucht, trinkt und nicht einmal in der Lage ist, ab und zu seinen Tisch abzuwischen. Keine Frage. Wer aber auf diesen Punkten herumreitet, wie Int-Veen es tut, verschleiert mal wieder einen wichtigen Aspekt:
Armut ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Der "Armut ein Gesicht verleihen" ist ja schön und gut – wenn allerdings die dahinter liegenden gesellschaftlichen Probleme verschleiert werden, ist das ein Fehlschluss, den die Moderatorin mit gehässigen Kommentaren nur befeuert.
So wird Int-Veen nicht müde, zu betonen, wie dreckig es in der Wohnung ist. In einer Kreuzverhör-ähnlichen Sequenz befragt sie Klaus und Bettina, wovon sie eigentlich leben, wenn ihr ganzes Geld für Telefon und Internet, Zigaretten und Alkohol drauf geht.
Anstatt sich in die Lage der Protagonisten hineinzuversetzen, drückt sie den Finger tiefer in die Wunde:
Menschen wie Klaus und Bettina, die es im realen Leben ja gibt, fallen aus dem System – aus unterschiedlichen Gründen. Die Grundfrage, der wir alle nachgehen sollten, ist doch: Wie können wir auch Klaus und Bettina wieder in die Gesellschaft eingliedern? Indem wir ihnen umso deutlicher machen, wie schlecht sie eigentlich sind?
Irgendwo scheint in deren Lebensläufen etwas schief gegangen zu sein. Konstruktiver wäre es, zu hinterfragen, wie es passieren kann, dass es Klaus und Bettina in dieser Form überhaupt gibt. Und das hängt meist mit strukturellen Problemen zusammen. Das Phänomen ist weit komplizierter, als es in einer fünfminütigen Unterhaltungssequenz dargestellt werden kann.
Wie so oft in Armutsshows – siehe zum Beispiel "Armes Deutschland" oder "Hartz und herzlich" – fehlt die Weitsicht in der Darstellung der Fälle. Von Äußerlichkeiten wie dreckigen Wohnungen oder der Ernährungsweise wird schnell auf die Charaktere der Protagonisten geschlossen. Beim Zuschauer wird vorschnell der Eindruck erweckt: Arme Menschen sind faul, dreckig und planlos.
Wieder einmal wurde also ein Format kreiert, dass keinen konstruktiven Ansatz in der Darstellung von Armut verfolgt. Schade – in der Fernsehlandschaft nichts Neues.