In England sollen am 19. Juli alle Corona-Regeln wegfallen. Auch in Deutschland werden erste Stimmen laut, zumindest dann, wenn jeder ein Impfangebot bekommen hat. Außenminister Heiko Maas hat jüngst gefordert, im August die Regeln aufzuheben, wenn alle ein Impfangebot gehabt haben. Trotzdem haben viele Bürger Angst vor einer vierten Welle – gerade wegen der Delta-Mutation. Wie in Zukunft zwischen Freiheit und Sicherheit entschieden werden soll und wie eine Herdenimmunität erreicht werden kann, diesen Fragen widmete sich am Donnerstagabend Moderatorin Maybrit Illner.
Das Bundesland Nordrhein-Westfalen plant bereits erste Lockerungen, vieles soll dort bald wieder möglich sein, sogar Volksfeste. Allerdings mit Masken und Tests. Die Gäste im Studio haben unterschiedliche Meinungen zu diesem Vorstoß. Manchen von ihnen geht es zu schnell, andere halten den Plan für überfällig oder mindestens angebracht. Einigkeit besteht hingegen darin, weiterhin möglichst viele Menschen zu impfen.
Aber auch Dispute zwischen den Gästen werden ausgetragen. So wirft beispielsweise Virologe Hendrik Streeck SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach vor, die Gesellschaft zu spalten.
Das waren die Gäste bei "Maybrit Illner" am 08. Juli 2021:
In Groß-Britannien werden die Maßnahmen in den kommenden Wochen zurückgenommen, und das, obwohl die Inzidenzen auf den Inseln steigen. Eine Entkopplung von Infektion und Intensivbettenbelegung durch die Impfungen soll den Weg dafür ebnen. Johnson und seine Regierung nehmen billigend in Kauf, dass sich viele Briten mit der Delta-Mutation infizieren werden."Machen Sie es wie die Briten?", fragt Illner Karl-Josef Laumann, den Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen (NRW).
Die Antwort: Nein. Das Bundesland habe einen Stufenplan, der wie ein Schutzschild wirken solle. Aber, da das halbe Bundesland eine Inzidenz unter vier habe, müsse geöffnet werden – wenn auch mit Masken und Bürgertests. "Wenn eine Kommune mehr als acht Tage eine Inzdenz über zehn hat, wird sie wieder automatisch in eine höhere Corona-Stufe eingeordnet", erklärt der CDU-Politiker. Bis dahin solle es aber wieder Möglich sein in Clubs feiern zu gehen, oder Volksfeste zu feiern.
"Ein falsches Signal", findet Karl Lauterbach. Der SPD-Gesundheitsexperte gibt zu bedenken, dass so jungen Leuten suggeriert werden könnte, dass die Pandemie vorbei sei. Auch den Vorstoß seines Genossen Maas hält er für vorschnell. Um möglichst viele junge Menschen impfen zu können und zu erreichen, müsse an den Orten geimpft werden, wo die jungen Menschen sind. "In Shishabars, auf St. Pauli, in Friedrichshain", sagt Lauterbach.
Virologe Hendrik Streeck spricht sich dafür aus, dass gelernt werden müsse, mit der Delta-Mutation umzugehen. "Die Maßnahmen wirken genauso gut gegen Delta, und auch die Doppelimpfung wirkt genauso gut gegen Delta", sagt er. Und eröffnet so den ersten Schlagabtausch. Lauterbach verweist auf die Studie aus Israel, nach der die Biontech Impfung bei Delta weniger gut gegen einen schweren Verlauf helfe, als bei Alpha. Es folgt ein Gerangel um Prozentzahlen, das von der Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt aufgelöst werden muss. Nicht das einzige Intermezzo von Lauterbach und Streeck an diesem Abend.
Anna Schneider, Chefreporterin der Zeitung "Die Welt", können die Lockerungen nicht schnell genug gehen. Sie findet, jeder müsse, sobald er ein Impfangebot gehabt habe, das Risiko der Infektion selbst tragen müssen. "Es ist nicht die Aufgabe des Staates, jeden einzelnen dauerhaft zu beschützen", erklärt sie.
Das Risiko komplett auf Einzelpersonen zu übertragen, da geht Lauterbach nicht mit. Wenig überzeugend finde er auch, dass Kindern von der Stiko nicht empfohlen werde sich impfen zu lassen. "Es gibt hier eine besorgniserregende Situation bei Long Covid", sagt er. Auch den jüngeren müsse angeboten werden, sich durch eine Impfung zu schützen:
Fast scheint es als hätte Streeck auf eine solche Aussage des SPD-Politikers gewartet: "Ich finde, es trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei, wenn Sie die Stiko anprangern, Herr Lauterbach", echauffiert er sich. Lauterbach mache aus differenzierten Aussagen brutale Aussagen, statt richtig zuzuhören, erklärt Streeck. Und weiter:
"Es ging jetzt gerade nicht um Sie", verteidigt sich der SPD-Gesundheitsexperte, "es ging um die Stiko." Er habe fachlich erklären wollen, warum er mit der Entscheidung der Stiko nicht einverstanden sei. "Das ist keine Majestätsbeleidigung", stellt Lauterbach klar. Der Politiker lobe, wenn er etwas gut fände und er kritisiere, wenn er etwas nicht gut fände – und das, wie er betont, auf sachlicher Ebene.
Bei einem erneuten Vorstoß Streecks wiegelt der Politiker ihn ab: "Lassen sie es." In der weiteren Debatte dreht es sich darum, wie Streeck zum Wellenbrecher Lockdown im November gestanden habe – der Virologe scheint eine andere Sicht auf die Ereignisse gehabt zu haben, als die Studiogäste. "Damals haben Sie zur Spaltung beigetragen", sagt Berndt. Und Lauterbach ergänzt: "Der Punkt ist, während wir überlegt haben, wie schnell der Lockdown kommt und wie hart er sein muss, haben Sie das Papier veröffentlicht und so suggeriert, es bräuchte keinen Lockdown."
Gut zwei Wochen später habe Streeck in der Talkshow von Sandra Maischberger eingelenkt und erklärt, es bleibe nichts als der Lockdown. "Sie haben auch den Satz geprägt: 'Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben'. Haben Sie sich damals bewusst missverstanden gefühlt?", fragt Illner den Virologen.
Ob Streeck und Lauterbach über Ausgangssperre und Lockdown noch häufiger werden Streiten müssen, fragt Illner. "Niemand sagt, die Pandemie ist vorbei", erklärt Streeck. Aktuell sei Sommer, jetzt müsse man sich Gedanken darüber machen, was im Winter sein wird. "Es kommt auf die Hospitalisierung, die Inzidenz und die Impfungen an", sagt der Virologe. Um richtig vorbereitet zu sein bräuchte es verschiedene Pläne. Außerdem müsse überlegt werden, wie mit Infektionen bei geimpften umgegangen werde.