Die aktuellen Corona-Infektionszahlen sind höher als im Oktober letzten Jahres, als in Deutschland der Teillockdown bereits beschlossen war. Müssen wir angesichts dessen weiterhin und möglicherweise noch mehr Druck auf Ungeimpfte ausüben? Ja, findet unter anderem SPD-Politiker Karl Lauterbach. Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht sieht das am Sonntagabend in der Talkrunde von "Anne Will" anders: Sie ist selbst noch ungeimpft.
Mit diesen Gästen diskutiert Anne Will über den bevorstehenden Corona-Winter:
Dass Nationalspieler Joshua Kimmich ungeimpft ist, hat eine bundesweite Debatte ausgelöst. Auch Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist nicht geimpft. Warum, will Moderatorin Will wissen. "Ich finde, es ist ein Problem, dass man das öffentlich begründen muss", antwortet Wagenknecht zunächst, tut das dann aber doch. In der Vergangenheit habe es zwar nur wenige Langzeitfolgen von Impfungen gegeben, die Corona-Impfstoffe seien aber neuartig und wenig erforscht. Sie finde es anmaßend zu sagen, dass man wisse, was diese Impfung in ein paar Jahren auslösen könnte.
Für die Risikogruppen – darunter auch ihr 78-jähriger Mann Oskar Lafontaine – appelliert sie an eine Impfung. "Alle anderen müssen das für sich abwägen", sagt Wagenknecht. Mit einem Totimpfstoff wie den chinesischen würde sie sich übrigens impfen lassen, wenn die EU diese "seriös" zulassen würden – dieser Widerspruch sei kurios, sagt Will, auch SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach wirkt unruhig und räuspert sich.
Alle Forscher an renommierten Universitäten würden ausschließen, dass es Langzeitfolgen dieser Impfung geben wird, sagt Lauterbach. "Es ist noch nie so gewesen, dass eine Folge eines Impfstoffs sehr spät aufgetreten ist", erklärt er. Es habe aber sehr seltene Folgen – wie die Sinusvenenthrombosen beim Impfstoff von Astrazeneca – gegeben, die früh festgestellt wurden. Die Impfdurchbrüche hätten gezeigt, dass sich Geimpfte zwar infizieren können, die Infektionen aber einen viel harmloseren Verlauf haben, führt er weiter aus.
Wagenknecht unterbricht: "Jeder soll das für sich selbst entscheiden, gerade auch weil Geimpfte nicht weniger ansteckend sind als Ungeimpfte." Lauterbach schüttelt den Kopf: "Das kann ich hier so nicht stehen lassen." Eine geimpfte Person habe in den ersten Monaten kaum Risiko, sich zu infizieren. Die Immunreaktion lasse anschließend nach, die Person habe dann zwar eine ähnlich hohe Viruslast, doch die ansteckenden Viren würden sich nicht so stark reproduzieren.
Boosterimpfungen müssen deswegen weiter beschleunigt werden, dafür fordert Lauterbach sogar, die Impfzentren wieder zu öffnen. Wie er selbst ausgerechnet habe, führe die Verimpfung ausschließlich in Arztpraxen dazu, dass die über 70-Jährigen erst in sechs bis zehn Wochen geimpft werden können – das dauere aber zu lange, um den Infektionszahlen und der steigenden Intensivbettenbelegung entgegenzuwirken.
Christina Berndt, Wissenschaftsjournalistin der "Süddeutschen Zeitung", erklärt, man dachte anfangs, dass von Geimpften keine Gefahr ausgehen wird, nun habe sich gezeigt, dass das nicht der Fall ist. "Sie spielen am Ende aber eine weitaus geringere Rolle als Ungeimpfte." Die Geimpften auf den Intensivstationen seien größtenteils alt und vorerkrankt – mittlerweile sind das etwa 25 Prozent der Patienten.
Auch Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, stimmt Lauterbach und Bernd zu. Die Corona-Impfstoffe wurden millionenfach verimpft und untersucht, Langzeitfolgen ausgeschlossen: "Man kann nach menschlichem Ermessen sagen, dass diese Sorgen unbegründet sind."
Trotzdem betont er, dass Kimmich derzeit einem großen Druck ausgesetzt ist. Er sei für viele ein Vorbild – das intensiviere die Sorge, dass sich viele möglicherweise deswegen vielleicht nicht impfen lassen. Wagenknecht schaltet sich ein und verteidigt die Entscheidung von Ungeimpften. "Es gibt nicht eine Meinung, auch nicht unter Wissenschaftlern und Ärzten", wiederholt Wagenknecht. Sie kenne beispielsweise Ärzte, die nicht jedem eine Impfung empfehlen – zum Beispiel nicht gesunden 30-Jährigen, stellt sie dann in den Raum.
"Hier kommen so viele Sachen zusammen", unterbricht Lauterbach sie kopfschüttelnd. Ihre Argumentation stimme nicht. Bei den 30-Jährigen bestehe bei etwa fünf Prozent eine schwerwiegende Long-Covid-Gefahr. "Ich kenne solche Leute. Sie leiden darunter", sagt Lauterbach. Bernd und Buschmann nicken. "Long Covid ist umstritten, Herr Lauterbach", findet Wagenknecht. Nun springt auch Will ihm zur Seite. Sie kenne 30-Jährige, die langfristig unter der Corona-Erkrankung leiden. Bernd ist der Meinung, dass Wagenknecht eine "völlig falsche Risikowahrnehmung" habe.
Wagenknecht versucht das Thema zu wechseln: Das Hauptproblem sei überhaupt, dass das Gesundheitssystem viel zu lange vernachlässigt wurde, Krankenhäuser kommerzialisiert und "kaputtgespart" wurden und wegen zu wenig Pflegepersonal Betten reduziert werden – heute sind es 4.500 weniger als noch vor einem Jahr. "Jetzt muss ich mal dazwischengehen", sagt Buschmann. Im Pflegebereich seien die Löhne zuletzt über ein Drittel gestiegen: "Und Sie lenken schon wieder ab." Will stimmt zu – in den Nachbarländern übe man bereits noch mehr Druck auf Ungeimpfte aus, leitet sie über.
In Italien gilt 3G am Arbeitsplatz bereits seit Oktober, in Österreich ab morgen und der neue Bundeskanzler Schallenberg droht sogar in letzter Konsequenz mit einem Lockdown für Ungeimpfte. Lauterbach unterstützt das 2G-Modell – wo immer möglich - bereits seit Monaten: "Dann wäre es traurig, aber wahr – Frau Wagenknecht kommt nicht rein." Buschmann ist von 2G kein großer Fan: Er sorge sich davor, dass Menschen bei 2G-Veranstaltungen von pauschaler Sicherheit ausgehen.
Buschmann hat vergangene Woche gemeinsam mit Vertretern von SPD und Grünen bekanntgegeben, dass die Ampel-Koalition die epidemische Lage von nationaler Tragweite beenden will. Er geht sogar weiter: Alle Maßnahmen würden am 20. März 2022 beendet werden. "Damit rufen Sie ja eine Art Freedom Day aus", unterbricht ihn Journalistin Bernd. Er finde das vernünftig – nach dem Winter sei Corona das individuelle Risiko eines jeden einzelnen. Bevor Will ihre Gäste unterbrechen muss und die Sendung beendet, hat wie so oft in der Pandemie Lauterbach das letzte Wort: "Man kann die Ungeimpften nicht sich selbst überlassen."