Keine Institution genießt derzeit so wenig Vertrauen wie die katholische Kirche. Das System ist gescheitert und Reformen müssen her, sind sich im Grundsatz alle Gäste bei Anne Will am Sonntagabend einig. Der emeritierte Papst müsse seine Schuld eingestehen, sagt Bischof Georg Bätzing, Vertuscher sollten zurücktreten, fordert Journalistin Christiane Florin und das kirchliche Arbeitsrecht müsse angepasst werden, stellt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt klar.
Mit diesen Gästen spricht Anne Will am Sonntagabend:
Mindestens 497 Kinder und Jugendliche waren im Erzbistum München und Freising von sexualisierter Gewalt betroffen, hat ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten aufgedeckt. Seit Tagen wird nun darüber geredet, ob die Kirche noch zu retten sei. Matthias Katsch, Sprecher der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch", widerspricht zu Beginn der Sendung. "Es geht doch darum: Wer rettet die Betroffenen?" Kardinal Marx hätte zurücktreten müssen, sagt Katsch, der die Initiative selbst mitgegründet hat. Marx ist selbst als Wissentlicher von mindestens zwei Fällen im Gutachten festgehalten. Das Ausscheiden einzelner sei aber nur der erste Schritt. "Das System ist gescheitert", so Katsch.
Georg Bätzing, Bischof von Limburg, stimmt ihm zu und spricht von "einem Systemversagen der Kirche." Statt einem direkten Rücktritt wolle Marx nun seine persönliche Verantwortung in den Fällen bei der Aufarbeitung einbringen, erklärt Bätzing. Reicht das? Nein, findet Journalistin Christiane Florin. "Wir sprechen hier von tausenden Betroffenen und niemand tritt zurück", sagt sie. Auch habe noch niemand öffentlich eingestanden, Akten vernichtet zu haben.
Durch die andauernde Vertuschung wurde in Kauf genommen, dass immer mehr Kinder verletzt werden, so Katsch. Auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. soll das Unheil vertuscht haben und bekannte Missbrauchstäter im Amt behalten haben, deckte das Münchner Gutachten weiter auf. Der Papst müsse sich äußern, sagt der Limburger Bischof. Joseph Ratzingers Schwäche sei es, sich bislang nicht von Beratern zu distanzieren und öffentlich einzugestehen, dass er Schuld auf sich genommen habe, so Bätzing.
Für Politikerin und Juristin Ingrid Matthäus-Maier (SPD) sind konkrete Rücktritte zweitrangig. Stattdessen sollte bekannt gegeben werden, dass Archive geöffnet werden, die Staatsanwaltschaft in allen Fällen ermitteln und Berufsverbote ausgesprochen werden. "Woher wissen wir denn, dass die nicht Akten vernichten oder schwärzen?", stellt Matthäus-Maier wie Florin weiter die Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage. Doch sie kritisiert auch die Politik, die das "jahrelang hat laufen lassen", und spricht sogar von einer möglichen Kompanie. Selbst wenn die Politik nun agieren würde, würde das einfach zu spät kommen, sagt Florin, die für den Deutschlandfunk über Religion berichtet.
13 Milliarden Euro Kirchensteuer würde die Institution jährlich bekommen, ein paar Millionen würden den Betroffenen entschädigt werden. Die Entschädigungen für die Betroffenen seien "lächerlich", urteilt Matthäus-Meier. Würde er sich für angemessene Entschädigungen einsetzen, spricht Katsch den Bischof direkt an. Bätzing plädiert für öffentliche Verhandlungen, bei denen über Schmerzensgeld verhandelt wird. Alle Taten müssten schonungslos aufgedeckt werden – dazu würden Täter und Vertuscher gehören. Matthäus-Meier fordert dafür eine staatliche Untersuchungskommission ohne Kirchenvertreter und Betroffene.
Bundestagsvizepräsidentin und Theologin Katrin Göring-Eckardt stimmt zu: Es müsse eine unabhängige Aufarbeitung und angemessene Entschädigung stattfinden. Die Kirche habe einen unabhängigen Beauftragten, sagt Bätzing. Und auch die aktuellen Kommissionen seien unabhängig und von Gesandten aus den Landesregierungen besetzt. "Vielleicht reicht das nicht", sagt er und meint, man müsse mehr tun. In diesem Zusammenhang solle aber grundsätzlich über Gewalt an Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Florin unterbricht ihn: "Die Kirche kann hier doch keine Bedingungen stellen."
125 queere Kirchenmitarbeitende haben sich in der vergangenen Woche in einer ARD-Dokumentation geoutet. Diese Menschen müssen nun um ihren Job fürchten, kritisieren Göring-Eckardt und Matthäus-Meier. Sie fordern, dass das Arbeitsrecht der Kirche geändert werden müsse. Bischof Bätzing nickt.
Derzeit kann die Kirche von Mitarbeitenden eine Loyalitätspflicht einfordern. Wer bei der Kirche arbeitet, muss etwa die "Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten". Auch darf man in der "persönlichen Lebensführung" sowie im dienstlichen Verhalten "die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden". Verstöße können zur Kündigung führen. "Ich kann bislang nicht garantieren, dass man nicht gekündigt werden wird, aber ich will das garantieren," sagt Bätzing. Menschen wurden lange genug extrem verletzt, Lebensformen tabuisiert. Er kämpfe für eine Anpassung des kirchlichen Arbeitsrechts.
"Das hätten Sie doch schon lange machen können", unterbricht Florin und betont, dass sich die Mehrheit der Bistümer bislang noch immer nicht zum Arbeitsrecht geäußert hätten. Sie könne sich beispielsweise nicht vorstellen, dass Köln zustimmen würde. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist zu lesen, dass gemeinsam mit den Kirchen eine Angleichung des Arbeitsrechts geprüft werden muss. "Der Staat hat sich viel Zeit gelassen und lange zugesehen", sagt Katsch. Eine Entscheidung müsse gefallen werden, stimmt auch Göring-Eckardt zu. Von einer Abschaffung des kirchlichen Arbeitsrechts spricht sie aber nicht – eine Änderung müsse her. "Es wird Regelungen geben müssen, die keine Rücksicht darauf nehmen, was in Rom irgendjemand sagt", stellt sie klar.
Die Menschen trauen der Kirche nicht mehr, sind erschüttert von der sexualisierten Gewalt, von der Vertuschung. Deswegen überlegen viele aus der Kirche auszutreten, einige haben es schon längst getan. Florin auch, möchte Will wissen? In ihrem Buch schrieb sie, dass sie bleibend davonlaufe. Doch ihre Recherchen würden zunehmend zur Gewissensfrage werden: "Ich schwanke noch."