Die Risikobereitschaft der deutschen Bevölkerung steigt schon seit Wochen, doch politisch ist zu lange nichts passiert, erklärt Psychologin Cornelia Betsch am Sonntagabend bei "Anne Will". Vergangene Woche wurden nun Maßnahmen festgelegt: 3G am Arbeitsplatz und in öffentlichen Verkehrsmitteln, drei verschiede Hospitalisierungsschwellenwerte, mehr Fokus auf Booster-Impfungen. Doch wird das ausreichen, um die vierte Welle zu brechen?
Darüber spricht Moderatorin Anne Will mit diesen Gästen:
Virologin Melanie Brinkmann sagt zu Beginn der Sendung, sie sei "wahnsinnig frustriert" von der Verantwortungslosigkeit der Politiker. Ihr Brandbrief an die Regierung wurde mittlerweile von über 500 anderen Wissenschaftlern unterzeichnet, die dem zustimmen. "Man hat Ende des Sommer gesehen, dass die Zahlen leicht steigen", erklärt sie ihren Frust. Im Herbst wurden immer mehr Maßnahmen gelockert, obwohl Daten bereits gezeigt hätten, dass die Infektionen zunehmen. "Warum das nicht gesehen wurde, kann ich nicht verstehen", sagt Brinkmann.
Ihre Vorhersage: Flächendeckendes 2G bei Veranstaltungen und in der Gastronomie sowie 3G am Arbeitsplatz werden in Hotspot-Regionen nicht reichen. Psychologin Cornelia Betsch, die die Studie "Covid-19 Snapshot Monitoring" leitet, erklärt, dass die Risikobereitschaft der Menschen automatisch zunimmt, wenn die Zahlen steigen. Das habe man bereits im August gemerkt – doch politisch sei nichts passiert.
Die Menschen hätten in der Pandemie gelernt, dass man auf die Verordnungen warten müsse – wenn die nicht kommen, werden sie automatisch wieder unvorsichtiger. "Wir sehen sehr deutlich, dass die Menschen die Lage gut und deutlich einschätzen können." Die Akzeptanz für ein flächendeckendes 3G war bereits vor Monaten hoch: "Diese Menschen verliert man durch uneinheitliches Handeln und mangelnde Kommunikation", erklärt Betsch den Mangel an Vertrauen.
Tobias Hans (CDU), Ministerpräsident des Saarlands, räumt kaum Mitschuld ein und sagt stattdessen, dass die Zahlen im September – nach dem Anstieg zuvor – wieder zurückgegangen seien: Deswegen habe man zunächst nicht damit gerechnet, dass die Impfquote wirklich nicht ausreichen würde und die Krankenhäuser wieder überlastet werden.
"Machen Sie sich Vorwürfe?", will Will von dem geschäftsführenden Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wissen. "Wer mich kennt, weiß, dass ich immer eher Team Vorsicht bin", lautet seine Antwort. Der neue Maßnahmenkatalog würde nun viel davon beinhalten – oftmals strenger geregelt als je zuvor, wie 3G am Arbeitsplatz und im öffentlichen Nahverkehr. FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann betont, dass neben all den infektiologischen nun auch die soziale Folgen erneut diskutiert werden. Sie habe den Eindruck, dass man als Land aktuell nicht mehr die Kraft habe, sich geeint dieser Aufgabe zu stellen.
Auch Heil ist sich der Auswirkungen der neuen Beschränkungen bewusst: "Es mutet Menschen viel zu, aber es geht um das Leben von anderen." Dann spricht er direkt in die Kamera und appelliert, sich impfen zu lassen. Monatelang wurde gesagt, dass es eine Impfpflicht – allgemein und einrichtungsbezogen – in Deutschland nicht geben wird, merkt Will an. Kommt jetzt doch die Kehrtwende? Hans beschreibt eine Impfpflicht für spezielle Berufsgruppen als "Druck auf Pfleger" und "zu früh und zu wenig ausgereift". Im nächsten Satz sagt er dann: "Der Hauptfokus muss jetzt sein zu impfen" – und scheint damit die allgemeine Bevölkerung zu meinen. Den Widerspruch verstehe sie nicht, sagt Will, und Hans erklärt ihn auch nicht weiter.
"Das Problem ist doch die Zeit", wirft Brinkmann ein. Man müsse doch jetzt auch schon auf den Januar, Februar, März schauen – dazu gehöre es auch, über eine Impfpflicht zu sprechen, selbst wenn sie sich wünsche, dass man auch ohne eine hohe Impfquote schafft. "Ich kann als Bürger und Familienvater diese Debatte gut verstehen", sagt Weil.
Man müsse sich jedoch als Politiker, der diese Debatte führen will, überlegen, mit welchem Konzept und welcher Rechtssicherheit das möglich ist. Parteipolitik will er außen vorlassen, deswegen stichelt Heil dann ohne seinen Namen zu nennen deutlich gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder: Politiker, die sich "jeden Tag mit markigen Sprüchen verewigen" und ohne Konzept eine Schlagzeile nach der anderen bringen, weil sie für eine Impfpflicht plädieren, würden ihn ärgern.
Was spaltet die Gesellschaft mehr – die Einführung einer Impfpflicht oder die Nichteinführung? Die Zustimmung für eine Impfpflicht steigt seit Wochen, sagt Betsch. Zudem sagen Ungeimpfte , dass sie derzeit kaum Vertrauen mehr in die Politik haben. Deswegen könnte das Paradoxe sein, dass eine Pflicht das Vertrauen in die Regierungsfähigkeit sogar steigern würde. Man könnte beispielsweise auch über eine Beratungspflicht nachdenken.
Die beschlossenen Maßnahmen jetzt würden möglicherweise bald einen Effekt erzielen, sagt Betsch. Doch mit Blick auf die Zukunft müsse man über eine Impfpflicht nachdenken. Eine Impfpflicht für Pflegepersonal sei da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, sagt Brinkmann. "Das wird die vierte Welle nicht brechen – das sind viel zu wenige Menschen."
Auch in den Bundesländern, die derzeit noch relativ gut dastehen, müsste bereits jetzt gegengesteuert werden. "Der Winter ist noch lang und bis Ostern noch starke Maßnahmen zu fahren, ist das Horrorszenario." Und Hans sagt bereits jetzt voraus: "Ich glaube, wir werden am 9. Dezember feststellen, dass wir in deutschlandweit noch mehr machen müssen."