Am Samstagabend hätte ganz Europa mit oder sogar in Rotterdam feiern sollen - doch der Eurovision Song Contest musste aufgrund der Corona-Krise gecancelt werden. Während die European Broadcasting Union (EBU) mit "Europe Shine A Light" noch eine Art Ersatz-Show aus Hilversum sendete, in der sich die ursprünglichen ESC-Länder präsentieren konnten (aufgrund von versicherungstechnischen Gründen allerdings ohne einen Gewinner), kürte die ARD zur Primetime ihren eigenen ESC-Sieger der Herzen beim "Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale."
Barbara Schöneberger, die sich in normalen Zeiten mit der deutschen ESC-Party von der Reeperbahn meldet, präsentierte den Zuschauern live aus der Hamburger Elbphilharmonie die zehn Kandidaten, die vergangene Woche via Vorauswahl in die Finalshow gewählt worden waren. Drei der Finalisten waren trotz Corona persönlich angereist und performten live auf der Bühne vor völlig leeren Zuschauerrängen: Dänemark, Island und Litauen.
Der klassische ESC ließ grüßen: Die ARD-Zuschauer und eine 100-köpfige Fachjury aus Deutschland stimmten für den Sieger ab, beide Votings machten je 50 Prozent des Ergebnisses aus. Und ESC-Fans wissen natürlich: "You can not vote for your own country". Der deutsche Beitrag von Ben Dolic stand für das Publikum nicht zur Wahl.
Barbara Schöneberger ist ESC-Profi durch und durch: Fünfmal moderierte sie den deutschen Vorentscheid, seit 2015 ist sie für die Punktevergabe verantwortlich. Souverän führte sie durch die Show, plauderte mit den anwesenden Kandidaten, ohne aufgesetzt oder aufgedreht zu erscheinen.
Auffällig und ein absoluter "Das ist jetzt nicht gerade wirklich so passiert"-Moment war allerdings das Opening: Schöneberger sang (und das ziemlich gut) ein Medley der bekanntesten ESC-Songs wie "The winner takes it all" und natürlich auch "Satellite". Der Text war allerdings abgeändert worden. Und so entging aufmerksamen Zuschauern auch die eindeutige Spitze gegen Stefan Raab und seine Konkurrenzveranstaltung auf ProSieben, den "Free ESC", nicht. So schmetterte Schöneberger:
Überhaupt hatte die Moderatorin innerhalb der ersten vier ARD-Eurovision-Minuten ganze dreimal gegen die ProSieben-Show gestichelt. In ihrer Anmoderation erklärte sie: "Perfekt, alles richtig gemacht, eingeschaltet im Ersten, wir sind das Original." Ein ähnlicher Satz war bereits kurz zuvor gefallen.
Übrigens: Bei einem Rückblick auf die bisherigen deutschen ESC-Kandidaten wurde Stefan Raab, der 2002 antrat, von Peter Urban lediglich mit einem "Wer war er nochmal?" bedacht.
Was braucht ein guter ESC-Song? Knapp bekleidete Tänzerinnen, Popsongs und Pyrotechnik mögen mit den Punkten aus Weißrussland bei einem regulären Song Contest vielleicht für die Top Drei reichen, an diesem Abend stand aber tatsächlich die Musik im Vordergrund.
Einer stach besonders hervor: Der Schweizer Künstler Gjon's Tears steuerte mit "Répondez-moi" eine Ballade bei, die unter die Haut ging. Gefühlvolle Stimme, sanfte Klavierbegleitung, zurückhaltende Inszenierung. Ganz, ganz stark!
Ja, es war vorher bekannt und ja, es ließ sich aufgrund der Corona-Pandemie auch nicht anders realisieren. Doch während einer Live-Show kollektiv Musikvideos aus sieben Nationen anzusehen (drei der Künstler traten vor Ort in der Halle auf), erinnerte eher an eine Hausparty in den frühen 2000ern, bei der man irgendwann leicht angezwitschert vor MTV oder Viva versackte.
Dauert bei einem regulären ESC die Punktvergabe normalerweise eine gute Stunde, war das Ergebnis in der ARD flott verkündet, da lediglich Jury und das Publikum je eine Voting-Runde bekamen. Der Favorit der Jury war Island, beim Publikum waren die Vorlieben etwas anders verteilt: Zehn Punkte gingen an Russland und die douze points an Litauen. Somit hieß der Sieger der Herzen mit 22 Punkten... Litauen!
Mit der Stimmungsnummer "The Fire" schaffte es die litauische Band "The Roop" an die Spitze. Glück im Corona-Unglück: Die Kandidaten waren als eine von drei Delegationen bei Barbara Schöneberger vor Ort in Hamburg und konnten ihren Gewinnersong gleich noch einmal singen. Die Dankesrede fiel allerdings sehr knapp aus, mehr als ein "Dankeschön" und ein paar Freudenschreie gab es nicht.
Im Gegensatz zur Konkurrenz bei ProSieben hatte die ARD das stärkste ESC-Ass überhaupt im Ärmel: Peter Urban! Seit 1997 kommentiert er den Eurovision Song Contest, am Samstagabend unterstützte er zusammen mit Ex-ESC-Kandidat Michael Schulte Barbara Schöneberger. Doch leider blieb für Urbans fachmännische (und teils auch bissige) Kommentare zu wenig Sendezeit. Ab und zu fragte Schöneberger ihn zwar nach seiner Meinung, doch das echte ESC-Gefühl, bei dem er den Zuschauern eine komplette Einordnung zu Songqualität und Inszenierung gibt, blieb aus.
Dennoch: Die klassische Punktevergabe, die gefühlt 73 Schnelldurchläufe ("Schauen Sie es sich doch noch einmal an", O-Ton Schöneberger) und die Zwischen-Acts – unter anderem trat der ursprüngliche deutsche ESC-Kandidat Ben Dolic auf – kamen recht nah an einen regulären Eurovision Song Contest heran. Dazu eine kurzweilige Show unter widrigen Bedingungen – die ARD hat es mit ihrem ESC-Ersatz geschafft, den Fans ein großes Stück der Eurovision-Stimmung zu transportieren.
Dies unterstützten noch die drei Live-Auftritte der europäischen Kandidaten, die so für Zusammenhalt gerade in diesen unsicheren Zeiten warben. Eine schwierige Aufgabe, mit viel Fingerspitzengefühl für die Essenz des Eurovision Song Contests solide umgesetzt – und wahre ESC-Fans bekamen so nur in der ARD den Real Deal.
ESC-Faktor: 8/10.
Übrigens: In der Nacht der Ersatzveranstaltungen gab die für den Eurovision Song Contest verantwortliche European Broadcasting Union bekannt, dass der ESC 2021 in Rotterdam stattfinden wird. Executive Supervisor Martin Österdahl erklärte: "Ich glaube fest daran, dass alle, die in den Eurovision Song Contest involviert sind, die Herausforderungen und Veränderungen gemeinsam durchstehen und den ESC stärker denn je zurückbringen werden."
(ab)