Auch der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz bekommt einen kleinen Gastauftritt, als ein Fan das Tauschgeschäft des Abends vollbringt. "Guitar Pick for German Candy" lautet das lukrative Angebot, das Olivia Rodrigo im Austausch für einen ihrer Plektren, eine Packung Toffifee und Leibniz-Kekse beschert. Ein Feature der besonderen Art: Denn auch Rodrigo trägt den Geist der Aufklärung in sich.
Es mag im Frühling der globalen Mega-Superstars etwas in Vergessenheit geraten sein, aber neben Taylor Swift, Beyoncé, Dua Lipa und Billie Eilish, die in den vergangenen Monaten mittels neuer Alben Ausschläge der Aufmerksamkeits-Skala erwirken konnten, hat sich Olivia Rodrigo ebenfalls längst auf dem Pop-Olymp etabliert.
"Guts" heißt das zweite Album von Olivia Rodrigo, das im September vergangenen Jahres erschienen ist und Anlass zu der 77 Termine umspannende Welttour gibt – eine Mischung aus Pop-Punk und 90's Rock, aus Balladen und Bangern. Am Samstag ist Rodrigo in der Berliner Uber Arena aufgetreten.
Es herrscht eine Stimmung, die zwischen Übernachtungsparty und Schreitherapie changiert, denn Rodrigo singt über all die Probleme, die durch die gnadenlose Linse der Pubertät noch einmal potenziert werden: über beschissene, aber leider auch süße Ex-Freunde, über Partys, Betrug und Rache, Wut und Irrationalität, über Selbstzweifel und das Schleudertrauma des Älterwerdens.
2021 gelang der damals 17-jährigen Rodrigo der Durchbruch mit der Pop-Ballade "Drivers License", eine sanft-erschütternd und herzzerreißend wütende Hymne über das plötzliche Ende einer Beziehung. Im Mai desselben Jahres, als die Corona-Pandemie noch wütete, erschien das exzellente Album "Sour", ein Generationenporträt weiblicher Gen-Z-Rollenprosa. Auf dem Song "brutal" heißt es: "I'm so sick of 17 // Where's my fucking teenage dream?"
Mit "Drivers License" und ihrem mehrfach Grammy-prämierten Debütalbum pulverisierte sie nicht nur eine ganze Reihe an Streaming-Rekorden, sondern emanzipierte sich auch von ihrer vorausgegangenen Schauspielkarriere.
Denn Rodrigo hat, wie viele heutige Popstars, zuerst die Disney-Maschinerie durchlaufen, als Teil eines Serienablegers von "High School Musical".
Daran erinnert sie auch am Samstagabend. Sie sei einmal Teil "dieser Serie" gewesen, sagt Rodrigo ironisch pikiert, als ihr am Set die Zeile "I hope you're happy, but don't be happier" eingefallen sei. Dem Regisseur habe sie dann gesagt, dass sie auf Toilette müsse – und dort die erste Strophe von "happier" geschrieben.
Dass sich Rodrigo bewusst ist, wie man sich vor einer Kamera zu verhalten hat, blitzt in jedem Augenblick des knapp 100-minütigen Konzerts durch. St. Vincent, Sängerin und Freundin von Rodrigo, hat einmal erzählt, dass ihr Produzent Daniel Nigro beim Aufnehmen gelegentlich eine Kamera auf sie richte, damit Rodrigo in die richtige Stimmung komme. Einfach, weil sie es so gewohnt ist, dabei zu performen.
Und trotzdem beherrscht Rodrigo das Kunststück, bei all dem relatable zu wirken. Ihre Hi-Guys-Energie scheint authentisch, ihre Komplimente aufrichtig. "Tonight we gonna have so much fucking fun", verspricht Rodrigo zu Beginn, das F-Wort wird sich als Konstante durch den Abend ziehen. Auch das ist als Überkorrektur nicht unüblich bei Kinderschauspieler-Veteranen.
Am Samstagvormittag, wenige Stunden vor dem Auftritt, postet sie noch in ihrer Instagram-Story, wie sie, wie halb Berlin auch, an diesem Tag, Radler auf dem Tempelhofer Feld trinkt und am Landwehrkanal spazieren geht.
Auch hat Olivia Rodrigo in ihren Songs einen Humor, den die meisten ihrer Kolleginnen nicht aufweisen können. In "Bad idea right?", einer witzigen Selbstreflexion über einen Verflossenen, sagt sie, lässig hingerotzt zwischen Gesang und Rap: "Yes, I know that he's my ex, but can't two people reconnect? I only see him as a friend, I just tripped and fell into his bed."
Und, da sind wir wieder bei Leibniz und der Aufklärung, Rodrigo ist dezidiert politisch. Nachdem der Supreme Court das Recht auf Abtreibung aufgehoben hatte, widmete sie den Richter:innen beim Glastonbury-Festival eine Cover-Version von Lily Allens "Fuck You". Einen Teil ihrer Tour-Einnahmen spendet sie an eine Initiative für Fortpflanzungsrechte, ihre Band besteht ausschließlich aus weiblichen oder non-binären Personen.
Ein besonderer Auftritt kommt am Samstag den womöglich zum Konzert mitgeschleppten Eltern zugute, insbesondere Väter haben es dabei zu einem auf Tiktok populären Subgenre geschafft.
Goldig und leicht derangiert stehen sie mit verschränkten Armen neben ihren euphorisch-hysterischen Teenie-Töchtern und schauen hin und wieder verstohlen auf ihr Handy (parallel läuft das Champions-League-Finale). Es gibt für diese Kohorte sogar passende T-Shirts. In Anlehnung an den zuvor erwähnten Songs läuft ein Vater stolz mit der Aufschrift "Dad Idea Right?" auf seinem Oberteil umher.
Regung zeigt sich bei ihnen, als ein paar Dutzend Sterne und ein Halbmond von der Hallentechnik in das Konzerthalleninnere heruntergelassen werden – weniger aus Begeisterung darüber, dass Rodrigo im Anschluss die selbstzweifelnden Elegien "logical" und "enough for you" präsentiert als über die Ingenieurskunst. Sei's drum.
Sie alle werden entschädigt, als Rodrigo all jene Fans, die wie die Sängerin selbst zum großen Teil in silbernen Pailletten-Röcken und Netz-Strumpfhosen gekleidet sind, dazu aufruft, ihre mitgebrachten Eltern zu umarmen. Einfach so, als Dank. Am eigenen Leib die Pubertät zu durchleben, ist nicht leicht. Das ist es aber auch nicht für diejenigen, die einem dabei Tag für Tag zusehen müssen.
Sie selbst, sagt Rodrigo, habe so sehr Angst vor der Erwachsenwerden gehabt. "An meinem 19. Geburtstag habe ich geweint." Dann spielt sie "teenage dream", ein Song, in dem sie sich fragt, wann es endlich aufhört, gut "für mein Alter" zu sein, und nicht einfach nur gut.
Und bevor im Hintergrund anrührende Videos aus Rodrigos Kindheit gezeigt werden, sagt sie, dass sie früher gerne gewusst hätte, sich nicht so viele Gedanken machen zu müssen. "There are magical things waiting around the corner." Das macht das Erwachsenwerden zwar nicht leichter, aber es singt derzeit wohl niemand schöner darüber.