Nachhaltigkeit
Interview

Vom Vegan-Sein zum Familienstreit: Familien Therapeutin über Streit beim Festmahl

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An den Feiertagen können sich auch Diskussionen über Veganismus zum Familienstreit hochschaukeln. (Symbolbild)Bild: www.imago-images.de / HighwayStarz
Interview

"Wenn die Eltern das Erwachsensein ihres Kindes nicht akzeptieren, wird Veganismus zum Diskussionsthema": Familientherapeutin über Streit beim Festmahl

23.12.2021, 14:3723.12.2021, 17:06
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An den Feiertagen ist man zu Hause plötzlich wieder damit konfrontiert, zurück bei der Familie zu sein. Und plötzlich kommt es öfter zu Streitigkeiten, ausgelöst durch Diskussionen über einen veränderten Lebensstil und auch neue Essgewohnheiten wie Veganismus, die sich schnell zum Familienstreit entwickeln.

Um herauszufinden, warum die Auseinandersetzungen gerade während der Festtage in den Familien entstehen, hat watson im Interview bei der Familientherapeutin Silke Krämer nachgefragt. Sie ist Expertin für Jugend- und Familienfragen und betreibt eine Praxis für Familiencoaching in Heidelberg.

Silke Krämer trainiert als Therapeutin zusammen mit Familien, friedlicher miteinander zu kommunizieren.
Silke Krämer berät in ihrer Praxis Familien zu einem besserem Kommunikationsverhalten zur Konfliktlösung.null / Gülay Keskin

watson: Frau Krämer, gibt es einen bestimmten Grund, warum Krach in der Familie durch Veganismus entsteht?

Silke Krämer: Solche Konflikte entstehen immer dann, wenn einer anders ist als der andere, denn wenn beide gleicher Meinung wären, gäbe es keinen Konflikt. Und dann kann es entweder so sein, dass einer bewusst den anderen angreift und sagt: "Hey, so wie du es machst, ist es nicht gut". Oder aber, dass der andere alleine durch das Verhalten seines Gegenübers den Spiegel vorgehalten kriegt und das etwas in ihm auslöst. Irgendwas, was er eben so in sich trägt, auch wenn es gar kein bewusster Angriff ist. Das kann auch geschehen, indem der eine mit gutem Beispiel vorangeht und der andere sich deshalb schlecht fühlt.

Also prallen zwei unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinander, obwohl beide gar keine Konfrontation wollen?

Ja, ein Motiv könnte zum Beispiel aus purem Idealismus sein, jeden bekehren zu wollen, weil der Veganer sich so mit dem Tierwohl identifiziert. Das wäre dann ein aktiver Vorgang, bei dem er wahrscheinlich oft darüber reden und diskutieren wollen und den Nicht-Veganer fragen würde, warum er denn überhaupt Fleisch esse, auch wenn das schlecht für uns alle sei.

"Allein durch das Verhalten seines Gegenübers bekommt der Nicht-Veganer den Spiegel vorgehalten und das löst etwas in ihm aus."

Bei einer anderen Wahrnehmung von einer ähnlichen Gesprächssituation könnte sich der Nicht-Veganer alleine durch das Vegansein des Anderen angegriffen fühlen, ohne dass dieser etwas sagt. Hier könnte es sein, dass er unterbewusst denkt: "Oha, der ist jetzt Veganer und hat jetzt so hohe ethische und moralische Ansprüche und denkt bestimmt schlecht über mich". Das findet unterbewusst statt. Der für den Nicht-Veganer wahrnehmbare Bereich besteht dann aus einem "sich unwohl fühlen", auch wenn er gar nicht so genau sagen kann, warum er sich so unwohl fühlt. Er reagiert darauf aggressiv oder abweisend, weil der andere unbewusst durch sein Vegansein ein Gefühl in ihm auslöst, das er nicht kontrollieren kann.

Also durch die bloße Anwesenheit des Veganers wird das Gegenüber schon angestachelt?

Ja, hier kommt es zu einer verzerrten Auffassung, einem Mismatch zwischen beiden, wie sie dieselbe Situation im Moment wahrnehmen.

Ältere Kinder, die nach Hause kommen, lassen sich auch oft bekochen oder die Mama macht wieder die Wäsche. Warum geschieht hier plötzlich wieder eine Art Set-Back in der Familienstruktur?

Das geschieht immer dann, wenn die Kinder und Eltern es nicht geschafft haben, während und nach der Pubertät in die Erwachsenen-Rolle hineinzuwachsen. In der Psychologie nennt man das die Transaktionsanalyse, eine Analyse des zwischenmenschlichen Kommunikationsverhaltens. Hier befinden sich die Eltern im Zustand des "Eltern-Ichs" und das Kind ist unterbewusst wieder im Zustand des "Kind-Ichs".

"Wenn aber die Eltern ewig in der Rolle des 'Eltern-Ichs' bleiben, dann kann man nie auf Augenhöhe miteinander interagieren."

In der Pubertät werden Kinder normalerweise selbstbestimmter und übernehmen mehr Eigenverantwortlichkeit. Sie wachsen dann aus diesem "Kind-Ich" heraus, hinein in den Bewusstseinszustand eines "Erwachsenen-Ichs". Wenn aber die Eltern ewig in der Rolle des "Eltern-Ichs" bleiben und nicht auch zum "Erwachsenen-Ichs" wechseln, dann kann man nie auf Augenhöhe miteinander interagieren. Die Eltern geben dem Kind dann auch weiterhin das Gefühl, "Ich weiß viel mehr als du, weil ich bin der Große und du bist der Kleine".

Vegan zu werden ist meistens eine Veränderung des ursprünglichen Lebensstils, mit dem man in der Familie erzogen wurde. Bedeutet das, dass auch die Erziehung durch die Eltern plötzlich in Frage gestellt wird?

Total. Angenommen, das Kind ist jetzt ausgezogen, lebt selbstständig sein Leben und kommt an Weihnachten zurück zur Familie, dann kann es sein, dass die Eltern sich weiterhin in der Eltern-Rolle fühlen und dem erwachsenen Kind das Gefühl suggerieren "Du bist kein Erwachsener, sondern weiter Kind". Wenn die Eltern das Erwachsensein ihres Kindes nicht akzeptieren, dann ist es eigentlich völlig egal, um welches Thema es geht: Dann kann der neue Haarschnitt, die Brille oder der Veganismus zum Auslöser für eine Diskussion werden. Das Thema Veganismus ist dann eigentlich nur der Mittel zum Zweck, eine Strategie, um dem Kind zeigen zu können "Guck, da haben wir's doch! Nicht mal ernähren kannst du dich richtig."

Liegt die Schuld an einem Konflikt damit ausschließlich bei den Eltern?

Nein. Es kann nämlich auch sein, dass die erwachsenen Kinder es nicht geschafft haben, in der Pubertät Eigenverantwortlichkeit zu erlernen. Wenn sie dann an Weihnachten nach Hause kommen und aus Bequemlichkeit in dieser kindlichen Rolle verharren und sich umsorgen lassen, gleichzeitig aber den Anspruch an die Eltern stellen, als erwachsen wahrgenommen und behandelt zu werden, dann kommt es auch zu Konflikten.

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Auch beim Abwasch zu helfen, zeigt, inzwischen verantwortungsvoller zu sein (Symbolbild).Bild: www.imago-images.de / DC_2

Also kommt es hier zum vorher genannten "Mismatch" der verschiedenen Eigenwahrnehmungen?

Ganz genau. Das erwachsene Kind müsste also konsequent auch erwachsen handeln und nicht Verantwortung für alltägliche Anforderungen an die Eltern abschieben. Zum Beispiel: "Meine Eltern machen immer noch meine Bankgeschäfte für mich, obwohl ich alleine wohne und das Auto ist auch auf sie eingetragen" – sich dann aber aufregen, dass die Eltern sich auch in anderen Bereichen einmischen.

Für meine Großeltern aus der Nachkriegsgeneration ist die Tatsache, überhaupt etwas zu Essen zu haben beispielsweise schon "Luxus". Damit kritisieren sie oft den Verzicht auf Fleisch und tierische Produkte als "Verschwendung". Wie kann man darauf reagieren?

Ich glaube, da kann man einfach nur mit Humor rangehen, sodass man sich dann nicht von ihrer Kritik angegriffen fühlt. Da sie meistens auch nicht im direkten Rollenverhältnis stehen, kann man hier mit mehr Abstand sagen "Du hast deinen Lebensstil und ich meinen, lass uns doch einfach friedlich sein".

Und wenn die Kritik dennoch nicht aufhört?

Leider können da manche auch schon sehr penetrant werden, dann hilft es nur, wenn man sich ganz klar abgrenzt. Mein empfohlener Weg wäre immer, es über den humorvollen Weg zu versuchen und die Toleranz, die man selber lebt auch den anderen aufzuzeigen. Aber wenn die immer rumnerven, dann würde ich in eine Metaebene gehen und fragen, ob für sie jetzt wirklich das Wichtigste ist, was gegessen wird. Ob es nicht viel wichtiger ist, dass man sich endlich mal wiedersieht und zusammen isst.

Der Tipp ist also, sich nicht auf die Details zu konzentrieren, sondern den Fokus auf das gemeinsame Ziel zu lenken, das Zusammensein?

Richtig, denn sonst kann man genauso gut zurückfragen: Warum wolltet ihr eigentlich, dass ich komme? Wollt ihr mich gerade als schwarzes Schaf behandeln oder findet ihr mich eigentlich auch nett? Und wenn ihr mich nett findet – warum behandelt ihr mich dann nicht nett?

"Das Wichtigste wäre, dass man auch ein bisschen entgegenkommt."

Haben Sie denn konkrete Tipps, wie Veganer und Veganerinnen Ihren Familien die Umstellung erleichtern können?

Das Wichtigste wäre, dass man auch ein bisschen entgegenkommt und zum Beispiel anbietet, die eigenen Knödel zum Weihnachtsessen mitzubringen, in denen keine Eier sind. Dann kann man das jeweilige gemeinsame Essen auch mit neuen Zutaten ergänzen und erwartet nicht automatisch, dass noch fünf Extragerichte gekocht werden. Damit zeigt man Toleranz für die Essgewohnheiten der anderen und gleichzeitig, dass man sich eigenständig selber versorgen kann.

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