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Reportage

Kältebus: "Wenige Minuten können über Leben und Tod entscheiden"

Der Winter ist für Obdachlose besonders bedrohlich.
Der Winter ist für Obdachlose besonders bedrohlich.Bild: dpa/Paul Zinken
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Kältebus-Helfer: "Wenige Minuten können über Leben und Tod entscheiden"

25.12.2019, 08:11
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"In den letzten Jahren haben die Anrufe zugenommen", sagt Matthias Spreemann, während er den Kältebus Richtung Ku'damm lenkt – die berühmte Shoppingmeile im Berliner Zentrum. Spreemann parkt den Wagen vor einer Modeboutique und steigt aus. Ein paar Meter weiter torkeln Menschen über einen Weihnachtsmarkt. 11 Grad Celsius. 21:15 Uhr. Noch ist es warm, aber später wird es bedeutend kälter.

In einer geschlossenen Volksbankfiliale finden wir ihn: einen Mann in verwitterten Klamotten. "Könnt ihr mich irgendwo unterbringen?", fragt er. "Klar, kommse mit", antwortet Spreemann. Tiefe Augenringe und Sorgenfalten auf seiner Stirn deuten darauf hin, dass das nicht seine erste lange Nacht ist. Zusammen mit seinem Kollegen greift er dem Obdachlosen unter die Arme und hilft ihm in den Wagen.

Der Mann ist der Erste, den der Kältebus an dem Abend abholt. Der Anruf kam direkt zu Schichtbeginn. Kurz darauf folgen weitere. Spreemann sagt, dass es unter anderem den Medien zu verdanken sei, dass ihn immer mehr Menschen anriefen. "Vielen konnten wir so das Leben retten", sagt er. Immerhin leben laut Wohlfahrtsorganisationen etwa 6000 bis 10.000 Obdachlose in Berlin. Und einige brauchen dringend Hilfe, auch in dieser Nacht. Dafür ist der Kältebus da.

Von der Idee zur Hilfsorganisation

Als 1994 ein Obdachloser auf den Straßen Berlins erfror, riefen Ulrich Neugebauer, Gunnar Fiedler und Karen Holzinger den Kältebus ins Leben. Ihre ersten Fahrten machten sie in einem privaten Auto. Kurz darauf sammelten sie Spenden für bessere Fahrzeuge. Heute, 25 Jahre später, besitzt das Kältebus-Team drei Fahrzeuge. Zwei Minibusse und ein Ambulanzfahrzeug. Das steuert Spreemann.

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- Eveline Harder bewahrt alte Menschen vor der Einsamkeit

"Häufig treffen wir Leute mit entzündeten Verletzungen. Wenn sie nicht zu einer Unterkunft möchten, können wir sie wenigstens versorgen", sagt Spreemann. Dafür fährt eigentlich ein Arzt mit. Diesen Abend leider nicht. "Krank", sagt Spreemann und zuckt mit den Schultern.

22:00 Uhr. 8 Grad Celsius. Wieder klingelt das Telefon. Noah Kassigkeit, Spreemanns Kollege, stellt dem Anrufer viele Fragen: "Haben Sie mit ihm gesprochen? Liegt er schon länger da? Wann haben Sie ihn gesehen?" Kurz darauf tippt er das nächste Ziel ins Navigationssystem.

Viele Fahrten laufen ins Leere

Wir fahren zu einer Parkanlage zwischen rotbraunen Häuserblocks im Prenzlauer Berg. Spreemann dreht ein paar Runden. Mit zusammengekniffenen Augen schaut er, ob irgendwer zusehen ist. Doch der Park ist zu dunkel. Wir müssen rein. Es ist still. Zweimal umrunden wir die Anlage. Nichts.

"Oft rufen uns die Leute grundlos", sagt Kassigkeit. Sie sehen jemanden, der an einer Bushaltestelle oder auf einer Parkbank seinen Rausch ausschläft und rufen sofort an. "Genau deshalb ist es wichtig, dass die Anrufer vorher mit den Menschen gesprochen haben." Fahrten ins Leere kosten dem Kältebus wertvolle Zeit für andere Einsätze.

Minuten entscheiden über Leben und Tod

Die Kälte zerstört den Körper binnen kürzester Zeit. Kühlt der Körper unter 37 Grad, verengen sich Blutgefäße und Zellen sterben ab. Das führt zu schlimmen Schmerzen. Ungefähr 15 Minuten dauert es, bis Ohren, Hände und Füße erfroren sind. Danach arbeitet sich die Kälte weiter zu den lebenswichtigen Organen: Herz, Lunge und Gehirn. Temperaturen ab fünf Grad können bereits zum Kältetod führen, wenn die Person nicht geschützt oder durchnässt ist.

Wenige Minuten können über Leben und Tod entscheiden, sagt Spreemann.

"Wenn wir die Menschen aufwecken können, ist das gut. Doch dafür ist der Kältebus eigentlich nicht da", sagt er. "Das können auch Passanten übernehmen. Sie müssten sich nur trauen." Und genau da liege das Problem. Viele Menschen haben laut Spreemann Berührungsängste. Die seien aber meist unbegründet. "In der Regel antworten die meisten freundlich. Sollte es doch mal zu einem Problem kommen, können sie einfach gehen und uns oder, besser, die Polizei rufen."

Bei Rollstuhlfahrern wird es kritisch

23:30 Uhr. 7 Grad Celsius. Der nächste Fahrgast soll laut Anrufer im Rollstuhl sitzen. Spreemann überlegt. In Berlin kommen nur drei Unterkünfte für Rollstuhlfahrer infrage. Insgesamt 15 Betten stehen zur Verfügung. "Zu wenig", sagt Spreemann. Sein Kollege nickt. Jeden Abend melden sich viele Rollstuhlfahrer bei ihnen. Es kommt vor, dass sie jemanden nicht mitnehmen können. An diesem Abend wird es klappen.

Angekommen am Alexanderplatz wartet ein mürrischer Polizeibeamter. Neben ihm sitzt unser Fahrgast, eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren. Der Beamte nickt und verschwindet wieder. "Hatte wohl einen schlechten Tag", sagt die Frau im Rollstuhl, die sich als Romana vorstellt. Sie lächelt.

Der Kältebus war nicht immer behindertengerecht

Spreemann öffnet die hintere Tür des Busses und klappt eine Metallrampe runter. Die gibt es erst seit diesem Jahr, erklärt Kassigkeit. Früher war es wesentlich schwerer, Rollstuhlfahrer zu transportieren. "Nicht nur, dass das Einladen viel Zeit in Anspruch nahm, es war auch noch ein Kraftakt." Jetzt schiebt er Romana problemlos in den Wagen.

Romana lebt seit sieben Monaten auf der Straße, sagt sie. Zwar könne sie zu ihrer Oma gehen, doch die könne sich nicht um sie kümmern. Außerdem sei ihr Haus nicht behindertengerecht. Kassigkeit kann ihr noch einen Platz in einer Unterkunft organisieren.

Wir fahren zum Containerbahnhof in Friedrichshain. Die Unterkunft ähnelt einem Zirkuszelt. Wir passieren eine Luftschleuse. Hinter einer verstärkten Tür wird Romana von mehreren Leuten freundlich empfangen. "Du hast Glück, das ist unser letztes Bett für heute", sagt eine Frau, während sie Romana abtastet. Ein paar Sekunden später schieben sie Romana zur medizinischen Kontrolle in einen Behandlungsraum.

Hauptsache, den Menschen wird geholfen

3 Uhr morgens. 4 Grad Celsius. Feierabend. Spreemann parkt den Wagen auf dem Parkplatz vor der Zentrale und schaltet das Handy aus. 10 Menschen hat er in dieser Nacht gefahren. "Momentan ist es ruhig", sagt er. Die Regel sei das aber nicht. "Meistens hört das Telefon nicht auf zu klingeln. In solchen Momenten müssen wir überlegen, wen wir zuerst holen."

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