1945 befreiten die Alliierten die Niederlande aus der Kriegsgefangenschaft. Die Plünderungen der Alliierten erinnerten jedoch eher an eine Besetzung.bild: imago images / United Archives International
Geschichte
Sie kamen als Befreier, doch sie benahmen sich wie Besatzer: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs plünderten alliierte Soldaten in einigen Gebieten der Niederlande ganze Dörfer leer.
09.05.2020, 14:5611.05.2020, 13:10
Daniel Huber / watson.ch
Diese Woche begingen die Niederlande das 75. Jubiläum der Befreiung von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Wegen der Corona-Pandemie fand die zentrale Gedenkfeier in Amsterdam allerdings nicht wie sonst mit zehntausenden von Teilnehmern statt – der Dam war diesmal beinahe menschenleer. Am 4. Mai gedenken die Niederländer bei der "Nationale Dodenherdenking" der Toten, am 5. Mai feiern sie den "Bevrijdingsdag", das Ende der deutschen Besatzung, die im Mai 1940 mit dem Überfall der Wehrmacht auf das neutrale Land begonnen hatte.
Am 5. Mai 1945 trat die am Vortag unterzeichnete Kapitulation aller deutschen Streitkräfte in Nordwestdeutschland, Dänemark und den Niederlanden in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt hielten deutsche Truppen noch bedeutende Teile des Landes im Norden und Westen. Große Gebiete im Osten hatten die Alliierten – Amerikaner, Briten und Kanadier – erst kurz zuvor erobert; nur der Landesteil südlich des Rheins war bereits im Herbst 1944 befreit worden.
Nach der Befreiung von Paris am 25. August waren die alliierten Armeen damals schnell nach Osten vorgestoßen. Als britische Truppen am 4. September 1944 die belgische Hafenstadt Antwerpen erreichten, hofften die Menschen in den Niederlanden auf eine schnelle Befreiung vom deutschen Joch. Tags darauf, am "Dolle Dinsdag" (närrischer Dienstag) gingen zahllose euphorische Leute auf die Straße – während viele Kollaborateure schon ihre Koffer packten.
Doch dann scheiterte Mitte/Ende September die kühne Operation "Market Garden", mit der die Alliierten in den Niederlanden den Rheinübergang erzwingen und den deutschen Westwall umgehen wollten, um danach schnell ins Herz Deutschlands vorzustoßen. Zwar konnten die alliierten Truppen Geländegewinne verzeichnen, ihr Vorstoß blieb aber an Rhein und Maas stecken.
Die unter deutscher Besatzung verbliebenen Gebiete der Niederlande erlebten nun den sogenannten "Hongerwinter". Nachdem die niederländischen Eisenbahner nach dem Dolle Dinsdag in einer von langer Hand vorbereiteten Aktion in den Untergrund gegangen waren, zeigten sich die deutschen Besatzer weder willens noch fähig, die Bevölkerung in diesem außerordentlich strengen Winter mit genügend Lebensmitteln zu versorgen. Etwa 20.000 Menschen verhungerten.
Die Lebensmittelversorgung im Hungerwinter 1945 war dürftig, Viele erlitten einen Hungertod.Bild: getty images / Hulton Archive / Keystone
Durch den Misserfolg von Market Garden wurden Teile der Niederlande zum Frontgebiet. Viele Ortschaften dort wurden evakuiert; die Bewohner hatten keinen Zutritt – in den Dörfern und Städten an der Frontlinie durften sich nur Militärpersonen aufhalten. Der bereits befreite Teil der Niederlande gelangte ab Mitte September 1944 unter eine temporäre niederländische Militärverwaltung ("Militair Gezag"), an deren Spitze der General Hendrik Johan Kruls stand. Die Aufgaben dieser Behörde, die faktisch von den alliierten Befehlshabern abhing, umfassten unter anderem das Gesundheitswesen, die Verteilung der Lebensmittel oder die Versorgung der Evakuierten.
Es war Kruls' Schreibtisch, auf dem im Oktober die ersten Beschwerden von niederländischen Bürgermeistern über Plünderungen landeten – und die waren nicht etwa von den Deutschen verübt worden, sondern von alliierten Soldaten. Zuerst kamen die Klagen vor allem aus der Provinz Limburg ganz im Süden, danach – dem alliierten Vormarsch folgend – aus Brabant und Gelderland.
Im November begann Kruls vorsichtig formulierte Anfragen in dieser Sache an das Hauptquartier der alliierten Truppen in Brüssel zu schicken. Die Antwort fiel einigermaßen apologetisch aus: In jeder Armee gebe es ein paar faule Äpfel, schrieb man ihm aus Brüssel, und trotzdem habe man Plünderungen auf ein Minimum beschränken können. Bestimmt seien überdies viele Klagen von Bürgern unter den Beschwerden, die jetzt versuchten, zuvor durch deutsche Soldaten angerichtete Schäden den Alliierten in die Schuhe zu schieben, um von diesen eine Vergütung zu erschleichen.
Die Führung der Alliierten muss von den Plünderungen gewusst haben, denn sie schreiben Strafen auf Plünderung aus.bild: getty images / William Vandivert
Das Epizentrum der alliierten Plünderungen befand sich im Süden der Provinz Gelderland. Diese Gegend war bis zur deutschen Kapitulation im Mai 1945 Frontgebiet. Als die Einwohner in ihre Ortschaften zurückkehren konnten, mussten sie feststellen, dass sich ihre Befreier an ihrem Eigentum vergriffen hatten. In den Gemeinden Ubbergen, Millingen, Groesbeek, Mook en Middelaar, Ottersum en Gennep wurden nahezu sämtliche Gebäude ausgeräumt. Fabriken, Hotels, Banken, Klöster und Kirchen – nichts war sicher.
Der Bürgermeister von Ottersum en Gennep, Jan van Banning, wandte sich im Februar 1945 selbst an den Verteidigungsminister der niederländischen Exil-Regierung in London. Hätte es sich um einen Einzelfall gehandelt, schrieb Van Banning, hätte er es nicht gewagt, unter diesen mühseligen Umständen darauf hinzuweisen. Doch die Plünderungen hätten die Bevölkerung schwer getroffen, und Van Banning hatte von seinen Amtskollegen viele ähnliche Beschwerden vernommen.
Tresore waren geknackt und ausgeräumt, Gemälde aus den Rahmen geschnitten und Silberbesteck aus den Schubladen entwendet worden. Im Garten vergrabene Wertgegenstände spürten die "Befreier" mit Metalldetektoren auf und gruben sie aus. Aus den Monstranzen in den Sakristeien der katholischen Kirchen wurden die Edelsteine herausgebrochen. "Es kommt dem Unterzeichnenden vor, als sei der Unterschied zwischen feindlichem und befreundetem Gebiet hier verloren gegangen und eine Behandlung erfolgt, als handelte es sich um besetztes Gebiet", klagte Van Banning.
Ein Teil der Schäden war naturgemäß durch Kampfhandlungen verursacht, wenn etwa Truppen ihren Gefechtsstand in Wohnhäusern einrichteten oder Stellungen in Ortschaften bezogen. Doch die Verwüstungen gingen weit über diese entschuldbaren Schäden hinaus. So kam es vor, dass alliierte Soldaten den Häuserkampf in intakt gebliebenen Gebäuden übten, obwohl in derselben Ortschaft ganze Straßenzüge bereits in Trümmern lagen. In einem Fall setzten Soldaten bei einer Übung fünf Bauernhöfe in einem Weiler mit Flammenwerfern in Brand. Erst als ein niederländischer Offizier protestierte, brach man die Übung ab – für die Bauernhöfe war es bereits zu spät.
Die Häuser sahen nach den Plünderungen oft völlig verwüstet aus.bild: getty images / Jack Wilkes
Es gab allerdings auch Niederländer, die ebenfalls die Gelegenheit nutzten, sich an fremdem Gut zu bereichern – sei es als Hehler für geplünderte Waren, sei es selbst als Plünderer. Letzteres kam sogar so oft vor, dass schließlich die Todesstrafe dafür eingeführt wurde. Doch in den evakuierten Gebieten konnten es keine einheimischen Plünderer sein, da diese Zonen für Zivilisten gesperrt waren.
Das Thema dieser alliierten Plünderungen war in den Niederlanden während des Krieges, vor allem aber in der Nachkriegszeit weitgehend tabu – zu sehr fühlte man sich den Befreiern zu Dank verpflichtet. So drückte die Direktion einer geplünderten Fabrik in Mook es aus: "Besser durch Freunde befreit und bestohlen als durch 'Moffen' (Schimpfwort für Deutsche) besetzt und ebenfalls ausgeraubt."
Zu Beginn des Jahres erschien nun jedoch ein Buch – "Bezet, bevrijd & geplunderd. Geallieerde plunderingen in de regio Nijmegen, 1944-1945" (Besetzt, befreit & geplündert. Alliierte Plünderungen in der Region Nimwegen, 1944-1945) –, das diese dunkle Seite des alliierten Feldzugs beleuchtet. Im Vrijheidsmuseum in Groesbeek wurde eine gleichnamige Ausstellung gezeigt. Auch dieses Jahr waren die alliierten Plünderungen aber kein Thema an den Gedenkfeiern zum Bevrijdingsdag.