"There is no glory in prevention" – Es gibt keinen Ruhm für Prävention, sagt Christian Drosten gerne. Und doch haben sich gleich mehrere Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, wie Europa ohne Corona-Prävention ausgesehen hätte.
Im NDR-Podcast "Coronavirus-Update" vom Dienstag erklärt Virologe Drosten, was die aktuellen "Was wäre, wenn"-Modelle über Deutschland besagen. Er äußerte sich zudem zu den jüngsten Corona-Ausbrüchen in Nordrhein-Westfalen und warnte eindringlich davor, die Pandemie zu unterschätzen.
Wie viele Menschen wären bis zum Anfang Mai an Corona umgekommen, hätten wir überhaupt keine Corona-Maßnahmen ergriffen? Diese Frage liegt einer aktuellen Studie des Imperial College aus London zugrunde, in der die Forscher mathematisch basierte Schätzungen für elf europäische Länder anstellten.
Dabei nahmen sie als Rechengrundlage die gemeldeten Todeszahlen. Ein "sinnvoller" Ansatz, so Christian Drosten. Todesfälle seien länderübergreifend am eindeutigsten vergleichbar und von Laborbedingungen unabhängig.
Zusätzlich wurde die Bevölkerungsstruktur miteinkalkuliert, so zum Beispiel die Altersstruktur, die in Deutschland vergleichsweise hoch ist. Daraus schätzten die Forscher die Todesanzahl ohne Präventionsmaßnahmen. Mit einem erschreckenden Ergebnis:
Zum Vergleich: Ende Mai hatten wir tatsächlich nur etwa 7.000 Todesfälle.
Drosten gibt allerdings zu bedenken, dass man in der Realität vermutlich doch eine niedrigere Zahl hätte, weil es DOCH zu Präventionen gekommen wäre, selbst auferlegten allerdings. In anderen Worten: Die Menschen hätten angesichts steigender Todeszahlen angefangen, sich selbst zu schützen.
Drosten: "Man hätte ja gemerkt, das eine Epidemie im Umlauf ist und auch ganz ohne spezifische, politische Entscheidungen hätten die Leute sich viel vorsichtiger verhalten. Das hätte sich von selber eingeschränkt. Die Leute wären schon aus Angst zu Hause geblieben." Ganz freiwillig.
Der Virologe befürchtet nach den Corona-Ausbrüchen in NRW zudem eine unbemerkte Ausbreitung des Coronavirus in der Bevölkerung. Die Verbreitung über die Gegend hinaus zu verhindern, sei jetzt das Entscheidende, sagte er. Generell gebe es aktuell in mehreren Orten, darunter auch in Berlin, eindeutige Anzeichen, dass Sars-CoV-2 wieder komme.
Schon jetzt ist aus Sicht des Virologen große Vorsicht geboten, dass sich keine zweite Welle entwickelt. Er verwies auf die Lage in den Südstaaten der USA, wo sich trotz hoher Umgebungstemperaturen eine "furchtbare Situation" entwickle. Dort sei zu früh gelockert worden.
"In zwei Monaten, denke ich, werden wir ein Problem haben, wenn wir nicht jetzt wieder alle Alarmsensoren anschalten." Die Bevölkerung müsse einsehen, dass die Gesundheitsbehörden Unterstützung und Konsens bräuchten.
Die Gespräche mit Drosten gehen bis Ende August in eine Sommerpause, wie die Moderatorin ankündigte. In der Zwischenzeit sollen auf dem Podcast-Kanal andere Wissenschaftler zum Thema Corona zu Wort kommen.
(jd/lin/mit Material der dpa)