Games können uns Alltagsprobleme für einen Moment vergessen lassen.Bild: Getty Images
Interview
06.02.2021, 15:3707.02.2021, 09:36
Videospiele fördern Aggressionen, führen gar zu Gewaltverbrechen. Jahr für Jahr wird das Klischee aufgewärmt. Bietet es sich an, etwa zu einer Debatte für strengere Netzkontrollen, kramen es Politiker wie der EU-Anti-Terror-Beauftragter Gilles de Kerchove raus, um vor Kolleginnen und Kollegen zu glänzen. Dass sie damit aus der Zeit fallen, geschenkt. Studien widerlegten längst die Killerspieltheorie, sprachen Games das gewaltfördernde Potenzial ab. Grund genug, sich mit den positiven Aspekten von Videospielen auseinanderzusetzen.
Viele finden in ihnen einen Zufluchtsort. Dort können sie Stress abbauen, den Alltag hinter sich lassen. Kleine Erfolgserlebnisse hellen die Stimmung auf, lassen große Probleme verschwinden, zumindest kurz. Gerade in Zeiten von Corona, wo immer mehr Menschen über psychische Belastungen klagen, ist das ein wichtiger Punkt.
Menschen mit psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen oder Angststörungen, kann das möglicherweise entlasten. Andersherum können Spiele, die diese Erkrankungen zum Thema haben, selbige für Außenstehende greifbar machen.
Um zu verstehen, wie genau das funktioniert und welche Spiele besonders hilfreich sind, sprach watson mit der Psychologin Jessica Kathmann. Neben ihrer therapeutischen Arbeit schreibt sie über Games aus psychoanalytischer Perspektive.
"Gerade, weil es vielen Menschen mit Depressionen schwerfällt, ihre Gefühlswelt in Worte zu fassen, kann ein Spiel als Aufhänger dienen."
watson: Als Psychologin beschäftigen Sie sich unter anderem viel mit dem Thema Gaming. Gibt es denn Spiele, die bei psychischen Erkrankungen helfen und haben Sie sie selbst bei einem Patienten genutzt?
Jessica Kathmann: Bisher noch nicht. Das liegt auch daran, dass es kein Patentrezept geben kann. Natürlich gibt es Spiele, die auf viele Menschen eine bestimmte Wirkung haben, etwa eine beruhigende. Viele heißt aber nicht alle. Es hängt von vielen Dingen ab, was man als entspannend erleben kann – Persönlichkeit, Erfahrungen, Gemüt.
"Animal Crossing" bietet etwa meditative Aufgaben, also eine eigene kleine Insel schaffen. Alles dreht sich ums Aufbauen, Gestalten, aber auch ums Sammeln und Freunde finden, Stress gibt es nicht wirklich. Das kann angenehm sein. Umgekehrt kann für mich ein Shooter wohltuend sein, weil ich mich so möglichst einfach ablenken kann und zudem schnelle Erfolgserlebnisse habe, wenn ich etwa eine Runde gewinne. Im Grunde suchen wir oft unbewusst aus, was für uns passend ist.
Es ist auch schwer vorstellbar, dass man als Therapeut sagen kann: "Hier, zock das und dir geht’s besser."
Absolut. Da finde ich auch, dass wir aus psychologischer Perspektive nicht das Recht haben, zu beurteilen, ob ein Spiel hilfreich ist. Es kann aber sein, dass im therapeutischen Kontext Fälle vorkommen, bei denen ich denke, ein bestimmtes Spiel passt hier gut.
"Games machen psychische Erkrankungen vielleicht greifbarer, aber lassen sich nicht eins zu eins auf jeden Menschen übertragen."
Es gibt Spiele, die setzen sich gezielt mit Einsamkeit auseinander. In "Sea of Solitude" steuern wir unsere Figur durch ihre eigenen Ängste, dargestellt durch Ungeheuer in einer verlassenen Spielwelt. Kann im Spiel erlebte Einsamkeit nicht zu selbiger führen?
Bei "Sea of Solitude" habe ich eher das Gefühl, dass sich gerade Betroffene erkannt fühlen. Immerhin habe ich dabei die Möglichkeit, innere Gefühle nach außen dargestellt zu sehen. Für viele ist es schwer, ihr Inneres überhaupt zu benennen und für Außenstehende greifbar zu machen. Auch wichtig: Das Spiel nimmt einen guten Ausgang. Es lässt uns nicht in dieser verlassenen Welt mit ihren Monstern zurück. Das gibt Hoffnung.
In "Sea of Solitude" werden Einsamkeit und Ängste spielbar.Bild: "Sea of Solitude"/Screenshot
Hier ist auch "Celeste" ein gutes Beispiel. Die Protagonistin leidet an Versagensängsten und glaubt, nicht gut genug zu sein. Ziel des Spiels ist es, einen Berg zu besteigen, was sich als enorm schwer herausstellt. Manche Passagen schaffen Spielerinnen und Spieler erst nach unzähligen Versuchen, wir müssen uns durchbeißen, werden aber am Ende belohnt.
Interessant ist dabei, dass wir diese Emotionen durch den hohen Schwierigkeitsgrad persönlich erleben, und gleichzeitig in der Geschichte. Wir fühlen mit. Für Depressive können aber auch klassische Heldenreisen gut sein, ganz ohne Metapher. Sie beginnen meist ähnlich: Irgendwas ist schiefgegangen und eine Person ist auserwählt, aber zu Beginn zu schwach, um sich gegen einen übermächtigen Gegner zu bewähren. Mit der Zeit trifft sie aber Verbündete, wird stärker und schafft es am Ende, einen Konflikt zu lösen. Ich glaube, das könnte Menschen mit Depressionen helfen.
"Celeste" verpackt Versagensängste in eine Berg-Metapher, lässt einen diese aber auch spielerisch erleben.Bild: "Celeste"/Screenshot
Könnten Videospiele, die psychische Erkrankungen abbilden, nicht auch Außenstehenden helfen, diese besser zu verstehen und dadurch Vorurteile nehmen?
Das kann ich mir gut vorstellen. Das war auch Thema einer Debatte zu einem Spiel, in dem eine Psychose ein Kernelement war, "Hellblade: Senua's Sacrifice". Die Protagonistin muss dabei eine düstere Spielwelt durchqueren, begleitet von Stimmen in ihrem Kopf, die sie quälen. All das bekam der Spieler mit, er war Teil dieser Gedankenwelt. Die Darstellung ist sehr gelungen und man merkt, dass da Fachleute involviert waren.
Es ist aber ein Trugschluss, zu glauben, dass einen solche Spiele zum Experten machen. Sie machen psychische Erkrankungen vielleicht greifbarer, aber lassen sich nicht eins zu eins auf jeden Menschen übertragen. Kein Spiel allein ist in der Lage, derlei vielschichtige Phänomene wie Depressionen oder Psychosen in ihrer Gesamtheit abzubilden. Trotzdem sind sie ein guter Ansatz, um zu zeigen, wie sich die Erkrankungen ungefähr anfühlen könnten.
"Spiele können einen besonnenen, eher ruhigen Menschen nicht zum dauerbrüllenden Choleriker machen."
Und mit dem Wissen aus den Spielen könnten wir mit Betroffenen vielleicht besser reden.
Die Spiele können ein wunderbares Mittel sein, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Gerade, weil es vielen Menschen mit Depressionen schwerfällt, ihre Gefühlswelt in Worte zu fassen, kann ein Spiel als Aufhänger dienen.
In "Hellblade" versucht die Protagonistin ihre Mann aus dem Totenreich zurückzuholen. Allerdings hat sie Wahnvorstellungen, es wird also nicht klar, ob ihre Erlebnisse nur ihrer Fantasie entspringen.Bild: "Hellblade Senua's Sacrifice"/Screenshot
Wenn Spiele dazu dienen können, bestimmte Gefühle zu lindern, können sie aber nicht auch negative, etwa Aggressionen, verstärken?
Ich glaube schon, aber auch da kommt es auf das Spiel an. Es gibt Studien, die untersuchen, ob Videospiele Aggressionen steigern. Das ist aber nur schwer zu messen. Häufig befinden sich die Menschen in einem Laborsetting, bei dem Probandinnen und Probanden erst spielen und danach einen Fragebogen ausfüllen. Auf die Realität lässt sich das kaum münzen. Ich habe mal eine Studie gelesen, dass nicht der Inhalt eines Spiels Aggressionen fördert, sondern das Scheitern. Häufiges Verlieren könnte demnach Frust oder Wut verstärken. Die Forschung ist da aber noch zu weit am Anfang, als dass wir wirklich zuverlässige Rückschlüsse ziehen können.
Kann der Konsum von solchen Spielen Menschen in ihrer Persönlichkeit negativ beeinflussen, ruhige Menschen zum Beispiel aggressiv machen?
Spiele können einen besonnenen, eher ruhigen Menschen nicht zum dauerbrüllenden Choleriker machen. Für langanhaltende, grundlegende Wut und die Bereitschaft zu aggressivem Handeln müssen meiner Meinung nach frühe negative (Beziehungs-)Erfahrungen vorhanden sein, die den Menschen nachhaltig prägen.
Unabhängig vom therapeutischen Kontext: Welche Vorteile bieten Spiele generell fürs persönliche Wohlbefinden?
Einige. Erfolgserlebnisse können zum Dopamin- und Serotonin-Ausstoß führen, die Glückshormone heben die Stimmung. Der Socializing-Aspekt kann ebenfalls eine Rolle spielen. Gerade bei kooperativen Games können Menschen online zueinander finden, miteinander sprechen, sich zugehörig fühlen. Außerdem kann man – zumindest virtuell – miteinander und mit der virtuellen Welt interagieren und gemeinsam etwas erreichen. Wenn wir uns auf die Corona-Pandemie beziehen, kann das natürlich auch vor Vereinsamung schützen.