Ein Jahr nach dem Fall Gisèle Pelicot: Hat die Scham nun wirklich die Seite gewechselt?
Der Fall Pelicot sorgte international für Aufsehen: Dominique Pelicot hat neun Jahre lang seine (mittlerweile Ex-)Ehefrau unter Drogen gesetzt, sie vergewaltigt und anderen Männern zum Missbrauch angeboten. Er filmte die Geschehnisse, 51 weitere Täter konnten dadurch identifiziert werden.
Die Taten fliegen nur durch Zufall auf: 2020 wird Dominique Pelicot wegen heimlicher Aufnahmen von Frauen im Supermarkt festgenommen. Auf seinem Computer finden Ermittler:innen anschließend Bilder und Videos des jahrelangen Missbrauchs an seiner Frau.
Gisèle Pelicot entschied sich dazu, ihren Fall öffentlich zu machen, zeigte dabei eine außergewöhnliche Klarheit und Sprache für das eigentlich Unsagbare.
Das machte den Prozess zu einem Fall, in dem das Sprechen über Scham, Gewalt und Macht neu verhandelt wurde. Der Slogan "Die Scham muss die Seite wechseln" gab vielen Betroffenen Halt und den Mut, ihre Geschichte selbst zu erzählen.
Wird also sexualisierte Gewalt heute gesellschaftlich anders betrachtet?
Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen: Ein Tag Symbolik, zwölf Monate Realität
Der 25. November ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen: Zahlen werden präsentiert, Projekte vorgestellt und beteuert, dass sich etwas ändern muss. Dass sich das komplexer gestaltet als unserer Gesellschaft lieb ist, wird selten thematisiert.
Der Fall Pelicot hat dennoch einen neuen Fokus ausgelöst: Dr. Marie-Luise Löffler, Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen, betont, dass Gisèle Pelicot durchaus auch zu einer feministischen Ikone geworden ist.
Ihr Fall habe einen Diskurs in Gang gesetzt, der über Frankreich hinaus Wirkung zeigt: "Sie hat die Perspektive der Betroffenen deutlicher in den Fokus gerückt und damit einen neuen Impuls für den gesamtgesellschaftliche Diskurs zu sexualisierter Gewalt gegeben."
Trotz des gesellschaftlichen Fortschritts bei der Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt warnt Löffler vor einem antifeministischen Backlash insbesondere in den letzten Jahren.
"Wir haben inzwischen eine sehr gut vernetzte Männerrechtsbewegung, die bis in den Bereich von Behörden oder in die Justiz hineinwirken. Dies kann auch den Ausgang von Rechtsprozessen im Bereich geschlechtsspezifische Gewalt beeinflussen", erklärt Löffler. Für sie ist deshalb eine umfassende, gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema entscheidend.
"Ja heißt Ja": Mammutaufgabe für das deutsche Rechtssystem
Dennoch ist der Fortschritt langsam: Erst 2016 wurde das "Nein heißt Nein"-Prinzip in das Strafrecht aufgenommen, nachdem zuvor jahrzehntelang das Widerstandsprinzip galt. Das bedeutete, dass Betroffene beweisen mussten, dass sie sich aktiv gewehrt hatten. Eine Situation, die Betroffene belastete und Täter entlastete.
Frankreich (seit Kurzem) und Spanien (seit 2022) setzen im Sexualstrafrecht auf "Ja heißt Ja". Damit verschiebt sich die Beweislast: Nicht mehr Betroffene müssen fehlende Zustimmung belegen, dafür müssen Beschuldigte nachweisen, dass eine Zustimmung tatsächlich vorlag.
Fälle wie Pelicot oder der deutsche Fall Fernando P., der laut einem Bericht der "Frankfurter Allgemeine" seine Frau über 15 Jahre hinweg, betäubt, vergewaltigt und gefilmt haben soll, zeigen, dass sexualisierte Gewalt bittere Realität ist.
Sexualisierte Gewalt: Solidarisierung ermöglichen – Scham durchbrechen
Dr. Rebecca Gulowski, Expertin für Gewaltprävention, kritisiert, dass Betroffene sexualisierter Gewalt oft allein gelassen werden. Scham schafft es, dass Betroffene mit ihren Erfahrungen vereinzelt werden, "ihnen werden die Bedingungen und Möglichkeiten erschwert oder entzogen, sich zu solidarisieren", so Gulowski.
"Um politisch aber gehört zu werden und gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, braucht es Solidarisierung, so wie wir es zu Teilen im Fall Pelicot in Frankreich beobachten konnten. Die Scham wird nicht die Seite wechseln, wenn man keine Räume hat, über Gewalterfahrungen zu sprechen und politisch zu werden. Denn jenseits des Leids und des Unrechts geht es auch darum – wie Prof. Kavemann, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch, es formuliert – die Stärke und Überlebenskraft vieler Betroffener anzuerkennen."
Dahingehend teilt Gulowski auch die Kritik der Unabhängigen Bundesbeauftragten Kerstin Claus, wonach die aktuelle Bundesregierung im Bundeshaushalt 2026 keine Mittel mehr für den Fonds "Sexueller Missbrauch" vorsieht und diesen damit faktisch einstellt.
Dadurch entfalle eine zentrale Unterstützungsleistung für Betroffene sexualisierter Gewalt. Fatal sei auch das Auslaufen der BMBF-Forschungsförderung zu sexualisierter Gewalt. "Beides zeigt, hier schlägt die Bundesregierung den völlig falschen Weg ein", so die Expertin.
Bystander stärken: Prävention als Schlüssel
Gesellschaftliche Veränderungen gelingen aber nur, wenn sie umfassend angegangen werden. Hinsichtlich des zu beobachtenden antifeministischen Backlashs plädiert Gulowski für umfassende Präventionsarbeit. Hier ist die präventive Arbeit mit Jugendlichen, gerade auch mit jungen Männern entscheidend.
Diese dürften aber nicht nur als Ausübende der Gewalt adressiert werden, sondern auch in ihrer Funktion als Dritte (sogenannte Bystander). Die Forschung zeige, dass, "wenn sich Jugendliche, gerade auch junge Männer in männlichen Peergruppen, aktiv gegen Übergriffe uns sexualisierte Gewalt positionieren, oder auch schon frühzeitig bei der Anbahnung von Übergriffen eingreifen, sexualisierte Gewalt eher verhindert werden kann."
In der bystanderbezogenen Prävention können Jugendliche lernen, Grenzen zu erkennen, sich gegen Übergriffe zu positionieren und Verantwortung zu übernehmen. Aber sie brauchen klare Vorbilder: gesellschaftlich, medial und in der eigenen Familie.
Sexualstrafrecht in Deutschland: Ein Reformstau
Die neuen Zahlen des Bundeskriminalamtes untermauern die Dringlichkeit einer Reformierung des Strafrechts: Im Jahr 2024 erfasste die Polizei rund 53.000 weibliche Betroffene von Sexualstraftaten, ein Anstieg um 2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei häuslicher Gewalt waren sogar 187.000 Frauen betroffen, 3,5 Prozent mehr als 2023.
Auch digitale Gewalt nimmt zu: Etwa 18.000 Frauen waren betroffen, ein Plus von sechs Prozent. Besonders alarmierend bleibt die Partnerschaftsgewalt: 308 Frauen wurden im Zusammenhang mit Tötungsdelikten registriert.
Die Statistik zeigt deutlich, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem bleibt, lässt jedoch auch vermuten: Immer mehr Straftaten werden zur Anzeige gebracht, dennoch ist die Dunkelziffer enorm hoch.
Betroffene begegnen zum Teil enormen Herausforderungen, Täter anzuzeigen. "Hier fehlen Unterstützung und traumasensible Akteur:innen in der Medizin, der Polizei und der Justiz", so Gulowski.
Der Weg von der Anzeige bis zum Prozess ist oft stark belastend. Betroffene werden hierbei laut Gulowski nicht selten reviktimisiert.
Erst wenn Betroffene nicht mehr allein gelassen werden und die Politik endlich Verantwortung trägt, kann die Scham dorthin zurückkehren, wo sie hingehört. Bis dahin bleibt es ein schmerzhafter, kräftezehrender Kampf, gegen das Schweigen und für eine radikale Solidarität mit Betroffenen.
"Wenn ich sehe, wo Frauen überall noch strukturell massiv diskriminiert, ausgeschlossen oder benachteiligt werden, müssten wir eigentlich noch sehr viel lauter sein", macht Löffler klar.
