Willkommen in der Vergewaltigungskultur: Warum Männer zu oft denken, sie sind arme Unschuldslämmer
"Die Scham muss die Seite wechseln" hat Gisèle Pelicot vor etwa einem Jahr gesagt, als ihre mehr als 50 Vergewaltiger verurteilt wurden.
Die Scham, damit meint sie, dass Opfer sich schuldig fühlen, wenn ihnen etwas angetan wurde. Die Scham, die verdrehte Fragen aufwirft: "Habe ich nicht deutlich genug 'Nein' gesagt?", "Habe ich ihm irgendwie falsche Hoffnungen gemacht?", "Hätte ich nicht mehr alleine unterwegs sein dürfen?", "Bin ich schuld daran, dass mir das passiert ist?"
Aber sie meint damit auch, dass Täter nicht mehr in die Opferrolle schlüpfen dürfen. Kein "ich dachte, sie wollte das auch" mehr. Kein "aber sie hat nicht nein gesagt" mehr. Kein "aber sie war doch betrunken" mehr.
In Fällen von Vergewaltigungen passiert oft eine Täter-Opfer-Umkehr. Während die Vergewaltigte erklären muss, wie es dazu kommen konnte, ist der Vergewaltiger "Opfer einer Verlockung", eines "kurzen schwachen Moments", eines "war doch nicht so gemeint".
Vergewaltigungskultur ist tief verankert
Genau diese perfide Denkweise hat einen der verurteilten Vergewaltiger von Gisèle Pelicot dazu gebracht, Berufung gegen sein Urteil einzulegen. Der 44-jährige Husamettin D. war ursprünglich zu neun Jahren Haft verurteilt worden. Nach dem Urteil gaben mehrere Männer an, dagegen Berufung einlegen zu wollen. Husamettin ist der einzige, der es schlussendlich tat.
Er habe niemanden vergewaltigen wollen. Er war sich sicher, Teil eines Sexspieles des Ehepaares zu sein. Er wurde hereingelegt von Dominique Pelicot, dem Ex-Mann von Gisèle, der sie über Jahre hinweg auf einer Plattform in einem Channel mit dem Namen "Ohne ihr Wissen" zur Vergewaltigung anbot. Er sei sich keiner Schuld bewusst.
Gisèle Pelicot ist daraufhin die Empörung anzusehen. "Zu welchem Zeitpunkt habe ich Ihnen meine Zustimmung gegeben? Niemals!", hielt sie dem Angeklagten entgegen. "Stehen Sie zu Ihren Taten und hören Sie auf, sich hinter Ihrer Feigheit zu verstecken", forderte die 72-Jährige laut der "Tagesschau".
Und Gisèle Pelicot fragt ihn noch: "Sie verstehen nicht, dass das Vergewaltigung war. Wann gestehen Sie, dass das ein Verbrechen war? Ich schäme mich für Sie."
Husamettin bekommt ein zusätzliches Jahr in Haft, weil er keine Verantwortung für sein Handeln übernommen habe, urteilt die Staatsanwaltschaft. Dass er überhaupt Berufung eingelegt habe, sei ein Beweis dafür, wie tief die Vergewaltigungskultur in Männern wie Husamettin D. verankert sei, zitiert die "taz" das Urteil.
Ich lese über den Text in der "taz", lese die Stelle nochmal und nochmal. Da steht wirklich Vergewaltigungskultur. Es ist in unserer Gesellschaft also so normal zu vergewaltigen, dass es um diese Straftat eine Kultur gibt. Eine Kultur, die Männer wie Husamettin leben. Eine Kultur, die dazu führt, dass Männer wie Husamettin glauben, weibliche Körper sind für ihre Lust, ihr Verlangen und ihre Bedürfnisse gemacht. Die glauben, sie können sich belanglos nehmen, was sie wollen. Ohne Konsequenzen.
Gisèle Pelicot wollte, dass die Scham die Seite wechselt. Trotzdem schämt sie sich für ihren Vergewaltiger. Und er? Es ist ziemlich klar: Husamettin schämt sich nicht. Und warum sollte er auch? In unserer Gesellschaft wird man als Mann mit dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber Frauen groß. Schon im Kindergarten sind Mädchen eklig. Schwach. Peinlich. Als Junge ist man cool. Stark. Schlau, klar.
Wir sind nicht "nur" Mädchen
Frauen werden in unserer Gesellschaft so systematisch abgewertet, dass es in Popkultur, Arbeit und Alltag einfließt, ohne, dass man es groß mitbekommt. "I'm just a girl", schreiben Mädchen und Frauen unter ihre Insta-Posts mit Matcha Latte und buttergelben Gelnägeln.
Jedes Mal denke ich "JUST a girl?!" Bitte Leute. Seid girly. Trinkt Matcha Latte. Macht euch Gelnägel. Aber ihr seid nicht "nur" ein Mädchen. Diese Abwertung von allem, was Frauen gerne mögen und mit ihnen assoziiert wird, ist nicht in Ordnung. Vor allem, wenn diese Abwertung von weiblichen Personen selbst ausgeht.
Wenn wir uns selbst kleiner machen als wir sind, unsere Vorlieben mit einem augenzwinkernden "I'm just a girl" abtun, uns für das Verhalten von Männern entschuldigen, ihnen ihre Scham selbst bei Gewaltverbrechen abnehmen – dann wird die gesellschaftliche Abwertung nicht besser werden.
Wir müssen uns Platz machen. Damit der weibliche Körper ernst genommen wird, unsere Gelnägel kein Zeichen von "süßes Mäuschen" sondern von Selbstbestimmung sind, und Männer sich verdammt noch mal nicht mehr trauen, sich in einen Gerichtssaal zu stellen und auf unschuldig zu plädieren, obwohl es Videos ihrer Tat gibt.
Der Fall um Husamettin zeigt: Zu viele Männer übernehmen nur sehr ungern Verantwortung für ihre Taten. Das Urteil ist vielleicht zumindest ein kleines Wachrütteln und ein Appell daran, dass man nicht immer mit allem durchkommt. Auch als Mann nicht.
Und es ist ein Zeichen der Justiz, dass über solche Fälle nicht mehr achselzuckend hinweggesehen wird. Johanna Wiest, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes, sagt gegenüber dem MDR, dass Urteile zu Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen meist nur im unteren Drittel des vorgegebenen Strafmaßes liegen.
Auch würde Schätzungen zufolge nur bei einer von 100 Vergewaltigungen in Deutschland wirklich eine Verurteilung erfolgen.
Was Husamettin angeht: Mit dem einen Jahr länger in Haft hat er immerhin mehr Zeit, um zu reflektieren und sich über seine Taten Gedanken zu machen. Ob das reicht, um zur Erkenntnis zu kommen, dass Frauen auch Menschen sind, bleibt anzuzweifeln.