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Ausbildung statt Studium: Verdrängen Abiturienten Hauptschüler vom Markt?

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Oft brauchen Berufsschüler mindestens den mittleren Schulabschluss. Bild: iStockphoto / FXQuadro
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Ausbildung statt Studium: Verdrängen Abiturienten Hauptschüler vom Markt?

24.01.2023, 16:2124.01.2023, 18:41
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Angesichts des Fachkräftemangels sind es eigentlich gute Nachrichten: Immer mehr Abiturient:innen entdecken Ausbildungsberufe für sich. Fast jeder zweite Deutsche mit Abitur entscheidet sich für eine Berufsausbildung. Allerdings löst das ein neues Problem aus: Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss werden vom Ausbildungsmarkt verdrängt.

Zu diesem Ergebnis kamen die Autoren einer aktuellen Studie, dem Monitor Ausbildungschancen 2023, die vom FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie unter Leitung von Dr. Dieter Dohmen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt wurde.

"Es ist wenig überraschend, dass dieser Anstieg zu einem Verdrängungseffekt zulasten anderer Gruppen von Schulabgänger:innen gehen muss."
Die Autoren der Studie

Für die Studie, die du hier einsehen kannst, wurden Langzeitdaten aller formalen Bildungsbereiche untersucht, unter anderem die Daten aus der Ausbildungsstatistik des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB), der Bundesagentur für Arbeit, des Statistischen Bundesamts sowie von Eurostat.

Wie sieht die derzeitige Lage auf dem Ausbildungsmarkt demnach aus? Und: Welche Probleme ergeben sich, die bald möglichst angegangen werden müssen? Wir fassen zusammen.

Deutlich mehr Azubis mit Abitur

Eine wachsende Zahl von Abiturient:innen entscheidet sich demnach für eine Berufsausbildung. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil derer, die mit Abitur eine duale oder schulische Ausbildung beginnen, von 35 Prozent im Jahr 2011 auf 47,4 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. "Von einer mangelnden Attraktivität der Berufsausbildung für Abiturient:innen kann keine Rede sein", sagt Dieter Dohmen, Autor der Studie. "Und auch nicht davon, dass sich Abiturient:innen zu wenig für berufliche Ausbildungen interessieren würden."

Studie Ausbildung Abiturienten Bertelsmann Stiftung
Bild: Bertelsmann Stiftung

Deutlich mehr Studienberechtigte als noch vor 15 Jahren beginnen heute eine duale Ausbildung. "In Relation zur Zahl der Abiturient:innen des entsprechenden Kalenderjahres hat sich der Anteil von 25 Prozent auf 36 Prozent erhöht", heißt es in der Studie. "Es ist wenig überraschend, dass dieser Anstieg (...) zu einem Verdrängungseffekt zulasten anderer Gruppen von Schulabgänger:innen gehen muss."

Hauptschüler werden verdrängt

Davon besonders betroffen sind Jugendliche mit Hauptschulabschluss, deren Übergangsquote sich im dualen System in den letzten zehn Jahren von 90 Prozent auf unter 70 Prozent verringert hat.

Schulabgänger:innen mit Hauptschulabschluss haben es insgesamt immer schwerer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Es sinkt der Anteil derjenigen unter ihnen, die eine Ausbildung machen. Zwischen 2011 und 2021 hat sich der Anteil der Jugendlichen, die mit einem Hauptschulabschluss die Berufsausbildung beginnen, sogar um ein Fünftel verringert.

Die Zahl der Jugendlichen, die sich weder in einer Ausbildung, noch in der Schule, noch in Arbeit befinden, hat sich leider deutlich erhöht. Diese Gruppe an Menschen wird NEET's genannt (Not in Employment, Education or Training).

Single sad teen holding a mobile phone lamenting sitting on the bed in her bedroom with a dark light in the background
Perspektivlosigkeit belastet viele Jugendliche.Bild: iStockphoto / AntonioGuillem

2021 werden in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen 630.000 Personen zu den NEETs gezählt, im Jahr 2019 waren es 492.000. "Die Entwicklung ist dramatisch", sagt Dieter Dohmen. "Viel zu viele Jugendliche gehen auf dem Ausbildungsmarkt leer aus oder fallen ganz aus dem System. Wir müssen die Integrationsfähigkeit des Ausbildungssystems wieder deutlich erhöhen."

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Zentralverband des Deutschen Handwerks widerspricht

Vehementer Widerspruch gegenüber der Darstellung, es gebe nun nicht mehr genug Ausbildungsplätze für Hauptschüler:innen in handwerklichen Berufen, kommt vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Eine Sprecherin sagt gegenüber watson:

"Ein Blick in die Zahlen für das Handwerk zeigt, dass von einem Drängen der Abiturientinnen und Abiturienten in eine handwerkliche Ausbildung kaum eine Rede sein kann. Es ist schlicht nicht zutreffend, dass es zu viele Bewerberinnen und Bewerber im Handwerk gibt. Das Gegenteil ist der Fall."

Als Beleg nennt das ZDH die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, nach deren Angaben 2022 allein im Handwerk 19.847 Ausbildungsplätze unbesetzt geblieben waren. "Ein Bild, das wir seit vielen Jahren sehen: Rund zehn Prozent des betrieblichen Ausbildungsangebots im Handwerk bleiben nach Berechnungen des Bundesinstitutes für Berufsbildung seit Jahren unbesetzt, 2022 waren es sogar 13,4 Prozent."

Auch die Sonderumfrage "Ausbildungssituation im Handwerk" des Zentralverbands des Deutschen Handwerks im dritten Quartal 2022 ergab einen eklatanten Bewerbermangel:

"Die Betriebe bieten deutlich mehr Ausbildungsplätze an, als besetzt werden können. Was fehlt, sind die Bewerberinnen und Bewerber. Ihre Anzahl ist bundesweit laut Bundesagentur für Arbeit in den letzten fünf Jahren um 113.000 und damit um 21 Prozent gesunken. Jeder dritte Handwerksbetrieb war 2022 trotz der schwierigen Rahmenbedingungen auf der Suche nach Auszubildenden. Davon konnte aber jeder Zweite keinen seiner angebotenen Ausbildungsplätze besetzen."

Warnender Appell der Experten

Die Studien-Autoren sehen das scheinbar anders. Sie warnen, es werde für einen großen Teil der Jugendlichen, vor allem denen mit niedriger Schulbildung, immer schwieriger, einen Ausbildungsplatz zu ergattern. Die Gründe sehen sie in steigenden Qualifikationsanforderungen auf dem Ausbildungsmarkt und regionalen Ungleichgewichten. Auch hat die Corona-Krise vielen Jugendlichen den Berufseinstieg aufgrund fehlender Praktika und Orientierungsmöglichkeiten erschwert.

"Für diese jungen Menschen ist die Gefahr besonders groß, ohne berufliche Qualifizierung zu bleiben und damit in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Dauerarbeitslosigkeit zu landen", warnt Clemens Wieland, Ausbildungsexperte der Bertelsmann Stiftung.

Im Jahr 2020 lag die Quote der sogenannten Ungelernten im Alter von 20 bis 35 Jahren laut Berufsbildungsbericht bei 15,5 Prozent und damit bei mehr als 2,3 Millionen. Bei jungen Menschen ohne Schulabschluss in dieser Altersgruppe liegt die Ungelernten-Quote sogar bei 64,4 Prozent und selbst bei denjenigen mit Hauptschulabschluss liegt sie noch bei mehr als einem Drittel (35,8 Prozent).

"Nicht die Akademisierung ist das Problem des Ausbildungssystems, sondern die mangelnde Integration von Jugendlichen mit niedriger Schulbildung."
Die Autoren der Studie

Es wäre wichtig, "den Fokus auf die jungen Erwachsenen zu legen, die keinen Ausbildungsplatz finden – sie werden von den Maßnahmen, die dazu dienen sollen, Jugendliche in Ausbildung zu bringen, offenbar nicht erreicht", so die Studienautoren. "Es sollte daher vorrangig alles dafür getan werden, diese zu erreichen. Gerade auch angesichts der verstärkten Debatte um die Anwerbung von Auszubildenden aus dem Ausland sollte nicht vergessen werden, wie groß das Potenzial der jungen Menschen hierzulande noch ist."

Es sei aber nicht die Schuld der Abiturient:innen, dass der Ausbildungsmarkt so dünn sei. "Nicht die Akademisierung ist das Problem des Ausbildungssystems, sondern die mangelnde Integration von Jugendlichen mit niedriger Schulbildung", schließen die Studienautoren und sagen weiter:

"Die von der Bundesregierung geplante Einführung einer Ausbildungsgarantie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt muss es darum gehen, sie so zu gestalten, dass tatsächlich jeder junge Mensch, der bei der Ausbildungsstellensuche leer ausgegangen ist, die Chance auf einen Ausbildungsplatz bekommt."
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