Es sind nicht nur Poeten, denen es – wie auf Carl Spitzwegs bekanntem Gemälde – umgeben von Büchern am Nötigsten mangelt: Nach einer aktuellen Expertise der Paritätischen Forschungsstelle sind 30 Prozent aller Studierenden in Deutschland von Armut betroffen (Daten des Sozio-ökonomischen Panels 2022 und Deutsches Studentenwerk).
Diese Erfassung ist brisant, weil die Regierung an einer BAföG-Reform arbeitet – an diesem Mittwoch werden die Vorschläge im Bundestagsausschuss für Bildung beraten: Danach soll der BAföG-Satz zum Wintersemester um rund fünf Prozent von 427 auf 449 Euro im Monat angehoben werden, auch für Schüler und Azubis. Der Kreis der möglichen Empfänger soll zeitgleich durch eine Anhebung der Elternfreibeträge erweitert werden. Zudem sollen diesen Plänen zufolge Wohnzuschläge angehoben, Zuverdienstregelungen gelockert und die Altersgrenze für den Bafög-Bezug erhöht werden.
Doch die Novellierung reiche bei weitem noch nicht aus, findet der Paritätische Wohlfahrtsverband, der die finanzielle Lage deutscher Studierender analysierte und aufgrund seiner Befunde nun laut Alarm schlägt.
Studierende sind laut der Studie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung besonders häufig und besonders schwer von Armut betroffen. Rund 30 Prozent aller Studierenden in Deutschland fielen im Jahr 2020 demnach unter die Armutsgrenze. Das mittlere Einkommen armer Studierender liegt bei 802 Euro. Der Abstand zur Armutsschwelle beträgt 463 Euro ("Armutslücke"). Überproportional von Armut betroffen sind dabei auch Studierende im BAföG-Bezug (45 Prozent).
"Studierende gehören zu einer besonders von Armut betroffenen Gruppe, schließlich liegt ihre Armutsquote deutlich über derjenigen für die Gesamtbevölkerung in Deutschland von 16,8 Prozent", so die Verfasser der Studie.
Im Gespräch mit watson erklärt Prof. Christoph Butterwegge die Auswirkungen der schwierigen wirtschaftlichen Situation auf Studenten in den vergangenen zwei Jahren. "Wohnten notleidende Studierende nicht ohnehin dort, kehrten manche von ihnen während der Pandemie aus Kostengründen ins Elternhaus zurück", berichtet der Politikwissenschaftler, der selbst bis 2016 an der Universität zu Köln lehrte. Was auch vorkam: "Der Gang zur Lebensmitteltafel."
Die tatsächliche Geldnot wird wohl noch dramatischer sein, wie die Verfasser der Erhebung mahnen. Denn: Die Einschnitte durch die Corona-Krise konnten von ihnen nicht miterfasst werden. Dazu gehört der Wegfall zahlreicher Studentenjobs während der Lockdowns sowie Distanzunterricht, der die Anschaffung privater Elektronik erforderte.
Butterwegge hat die durch die Pandemie zugespitzte Situation gerade erst für sein aktuelles Buch ("Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona", Beltz Juventa) unter die Lupe genommen und bestätigt, dass Corona das Studentenleben massiv erschwert hat.
Auch die derzeitige Inflation treffe arme Menschen besonders stark, gibt die Parität zu bedenken. Denn: Finanzielle Rücklagen beständen kaum und die Möglichkeiten, Kosten einzusparen seien gering. "Studierende sind zudem zeitlich im Rahmen von Vollzeitstudien so eingespannt, dass eine mögliche Ausweitung der Erwerbstätigkeit in Konflikt mit Anforderungen an das Studium geraten", heißt es weiter in der Studie.
Auffällig häufig betroffen von Armut sind Studierende, die in einem Ein-Personen-Haushalt leben. Ihre Armutsquote kommt auf satte 79,2 Prozent. Damit lebten sie "unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums", wie die Studie zusammenfasst. Am besten geht es Studierenden, die noch bei ihren Eltern wohnen (7,1 Prozent).
Die Unterstützung durch die Eltern ist auch sonst entscheidend, wie die Studie weiter zeigt. Am wenigsten von Armut betroffen sind Studierende, die aus bildungsnahen Haushalten kommen, sie werden im Schnitt zu zwei Dritteln von ihren Eltern finanziert. Studierende aus bildungsfernen Familien haben diesen Support nicht. Sie bestreiten nur ein Drittel ihres Einkommens durch die Eltern.
Gegenüber watson berichtet Butterwegge, dass die Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge das Problem verschärfe: "Durch die Verschulung des Studiums wächst der Zeitdruck, schnell den Abschluss zu schaffen. Da sind Studierende privilegiert, die finanzielle Unterstützung aus ihrem vermögenden Elternhaus erhalten", sagt er. "Wem solche Möglichkeiten fehlen, dessen Bildungschancen sind entsprechend miserabel." Das Ergebnis: soziale Ungerechtigkeit.
Die Autorinnen und Autoren der Studie empfehlen darum weitreichende BAföG-Reformen, um Studierende vor all dem zu schützen. Die nun vorliegenden Pläne der Regierung seien dafür nicht ausreichend. Denn: Die Anhebung der Bedarfssätze gleiche nicht einmal die realen Kaufkraftverluste durch die aktuelle Inflation aus, kritisiert der Verband.
Nötig sei eine bedarfsgerechte Anhebung der Leistungshöhe sowie eine automatische und regelmäßige Fortschreibung der Bedarfssätze. Die Leistungen des BAföG müssen "mindestens das allgemeine menschenwürdige Existenzminimum decken", so die Studien-Verfasser. Wie viel das nach ihren eigenen Berechnungen wäre? Über 600 Euro im Monat.
Besonders Studierende aus der unteren Mittelschicht seien oft von BAföG-Unterstützung ausgeschlossen, obwohl "ihre Familien den ihnen zustehenden Elternunterhalt nicht leisten können", kritisiert Prof. Butterwegge. Eine Strukturreform müsse sie inkludieren. "Darüber hinaus sind andere Schritte nötig, wie ein höherer Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung", sagt er. "Minijobs müssten sozialversicherungspflichtig gemacht werden, damit Studierende mit Nebenjob nicht in die Röhre schauen, wenn er in einer Krisensituation wegfällt."
Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsunternehmen Civey im Auftrag von watson durchführte, hielt eine Mehrheit der Befragten (40 Prozent), die geplante BAföG-Reform in Deutschland übrigens für ausreichend. Nur 33 Prozent sahen Nachholbedarf. Besonders Ältere (über 65 Jahre) und Westdeutsche finden die Aufstockung hoch genug.
Kritiker sagen zudem, dass es sich bei der Armut der Studierenden um einen zeitweiligen Zustand handelt, der nach dem Abschluss meist durch ein umso höheres Einkommen ausgeglichen wird. Kritik, die Butterwegge zurückweist. "Die EU bemisst Armut zu Recht ausschließlich danach, ob ein Alleinstehender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens – in Deutschland 1.126 Euro im Monat – zur Verfügung hat", sagt er gegenüber watson.
Immerhin einen Hoffnungsschimmer halten die heutigen Beschlüsse für Studierende bereit: Als Lehre aus der Corona-Pandemie will die Bundesregierung auch künftig Studierenden helfen, denen wegen überregionaler Krisenfälle die Einkünfte aus Nebenjobs und damit ein großer Teil des Lebensunterhalts wegbrechen. Das Kabinett beschloss dazu einen Gesetzentwurf, wonach der Bundestag eine entsprechende "bundesweite Notlage" feststellen und die Regierung dann den Kreis der Bafög-Berechtigten per Verordnung ausweiten kann.
Damit solle verhindert werden, "dass junge Menschen ihre Ausbildung oder ihr Studium etwa wegen eines verlorenen Nebenjobs abbrechen müssen", erklärte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). "Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, wie schnell junge Menschen finanziell in Schwierigkeiten geraten können." Zugleich sei die Pandemie, "ohnehin eine große Belastung" für sie gewesen. "Deshalb ist der neue Mechanismus auch das klare Signal, dass sie gesehen werden" und Unterstützung erhielten, betonte Stark-Watzinger.
Doch die Krisenregelung kommt möglicherweise für viele zu spät, und so lange die Inflation die Anhebung der Förderung auffrisst, gilt: Wird ein Studium zu teuer, können Menschen aus einkommensschwächeren Familien abgeschreckt werden – und werden vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen. Und das ist dann ein Problem, dass nicht nur Studierende, sondern die Gesellschaft als Ganzes trifft.
(mit Material von afp)