Heimat. Das ist seit über fünf Monaten für viele Ukrainer und Ukrainerinnen ein komplizierter Begriff geworden. Denn seit Russland am 24. Februar das europäische Land angegriffen hat, mussten Millionen Menschen, besonders aus den Ost-Gebieten, ihr Zuhause verlassen und sind nun auf der Flucht – viele landeten dabei auch in Deutschland.
Bis zum 16. Juli 2022 wurden 909.740 Personen aus der Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister (AZR) registriert, erklärte das Innenministerium auf Anfrage des Mediendienstes Integration.
Wie geht es für sie weiter? Diese Frage treibt vor allem die Geflüchteten selbst um. "Diese Menschen wurden von einem auf den anderen Moment aus guten Verhältnissen, ihren Wohnungen, ihren Arbeitsstätten und Zukunftsplänen gerissen", sagt Barbara Holmes. Sie betreut die Beratungshotline des Bildungsanbieters GFN, die Beratung und Coachings für Ukrainerinnen auf Jobsuche anbietet. Das Ziel: Den Menschen zu helfen, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Das geht in der Theorie meist ganz einfach, läuft dann aber in der Praxis oft nicht so reibungslos. Warum? Darüber hat watson mit Barbara Holmes und Michaela Ortega-Dax, Standortleiterin bei GFN, gesprochen.
Auf dem Papier ist die Arbeitserlaubnis für Geflüchtete aus der Ukraine nicht kompliziert zu erhalten: Erstmals wurde in der Europäischen Union die Richtlinie vom 20. Juli 2001 angewandt, die einen Aufenthalt ohne Asylverfahren von einem Jahr für Geflüchtete sichert. Mit dieser Aufenthaltserlaubnis haben Geflüchtete aus der Ukraine einen unbeschränkten Arbeitsmarktzugang und dürfen erwerbstätig werden.
Allerdings ist der Weg zum Job, trotz des Fachkräftemangels in Deutschland, oft beschwerlich. Die Geflüchteten, die sich bei Barbara Holmes melden, kämen aus ganz unterschiedlichen Berufen, "da sind Maler und Lackierer dabei, Designer, Richter, Juristen, Erzieher, Pädagogen und Laboranten." Aber gerade für diejenigen Ukrainer mit sehr hohem Bildungsgrad dauert es länger, einen Job zu finden: "In den handwerklichen Bereichen findet Integration schneller statt als in den akademischen."
Handwerkliche Qualifikationen seien schneller nachweisbar, besonders wenn Zeugnisse nicht mitgenommen wurden und im Kriegsgebiet auch nicht so schnell wiederzubeschaffen sind. "Zusätzlich zu den fehlenden Dokumenten möchte die Regierung, dass Arbeitssuchende erst einmal Deutsch lernen", berichtet Barbara Holmes. Gerade in akademischen Berufen ist der Spracherwerb oft eine größere Herausforderung, die dazu führt, dass Akademiker keinen gleichwertigen Job im Ausland finden, und mit Karriere-Rückschritten oder gar kompletten Umschulungen rechnen müssen.
Weiter sagt Holmes:
Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnte zudem: "Geflüchtete dürfen nicht mangels Alternativen in prekärer Beschäftigung landen und dort die Versäumnisse in der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre ausgleichen." Denn Lücken gäbe es vor allem dort, "wo die Löhne niedrig und die Arbeitsbedingungen schlecht sind, beispielsweise in der Pflege, der Gastronomie, der Fleischwirtschaft und der landwirtschaftlichen Saisonbeschäftigung."
Besonders bitter seien Umschulungen, weil die Betroffenen ihr Land ja nicht freiwillig verlassen haben. "Die Ukrainer, die es in den Westen zog, weil sie sich Aufstiegschancen versprachen, sind schon lange hier. Die, die jetzt gekommen sind, hätten gerne weiterhin in ihrem Land gelebt", so Holmes.
Diese Zerrissenheit mache es den Menschen nicht leicht, anzukommen. Einige zieht es sogar, trotz aller Umstände, zurück nach Hause. "Aber es gibt auch sehr viele, die sich schnell integrieren wollen", berichtete Barbara Holmes. "Die erste Frage ist eigentlich immer die nach einem Sprachkurs und die zweite dreht sich dann um die Arbeitssuche. Schließlich wollen sie den Lebensunterhalt für ihre Kinder verdienen."
Doch auch Alltagsfragen erreichen sie. "Da sind Leute unsicher, welches Kästchen sie in einem Anmeldeformular ankreuzen müssen oder was die Mehrwertsteuer eigentlich ist", sagt Barbara Holmes. "Aber manchmal ist auch einfach das Bedürfnis da, zu sprechen. Viele fühlen sich in Deutschland immer noch sehr fremd."
Gerade weil sie das weiß, hätten viele der Betreuten inzwischen auch ihre private Handynummer, um außerhalb der Sprechzeiten anrufen zu können. "Es ist für die Menschen wichtig, dass sie diese Sicherheit haben, falls eine spontane Übersetzung nötig ist", sagt sie. "Ich erfahre dafür eine große Dankbarkeit. Viele Ukrainerinnen sind überhaupt sehr froh über die Hilfe, die sich durch uns, aber auch fremde Helfer und soziale Institutionen erfahren. Das mitzuerleben ist wohl der schönste Teil meines Berufs."
Ein weiteres Hindernis bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt ist die Frage der Kinderbetreuung. Eine Befragung des BMI unter rund 2000 Geflüchteten zeigt, dass rund 84 Prozent der Kriegsflüchtlinge Frauen sind. 58 Prozent von ihnen sind gemeinsam mit ihren Kindern nach Deutschland gekommen. 92 Prozent der Befragten waren in der Ukraine berufstätig oder in der Ausbildung, allerdings hatten sie dort auch Kita-Plätze, Schulklassen oder ein familiäres Netzwerk.
Inwieweit die Kinderbetreuung in Deutschland so funktioniert, dass geflüchtete Mütter tatsächlich schnell an Sprachkursen teilnehmen oder einem Job nachgehen können, sei "regional sehr verschieden", bekommt Michaela Ortega-Dax mit. Sie ist Standortleiterin bei GFN und weiß, dass die Betreuung ihrer Kinder für Migrantinnen – unabhängig des Herkunftslandes –immer ein Riesenthema auf dem Weg in den Arbeitsmarkt ist.
Allerdings seien die Frauen im Exil erfinderisch, berichtet sie weiter: "Wo es Engpässe gibt, hilft man sich gegenseitig. Oft passt eine Freundin oder Nachbarin auf die Kinder auf, wenn ein Job-Interview oder ein wichtiger Amtstermin ansteht. Diese Netzwerke unter den Geflüchteten sind Gold wert, aber es gibt auch viele Hilfsangebote in Deutschland, die kommuniziert werden müssen. Denn natürlich brauchen die Frauen, wenn sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen sollen, eine gute und zuverlässige Kinderbetreuung."
Neben dieser Hürde ist der größte Stolperstein momentan die Anerkennung der heimischen Berufsqualifikation, glaubt Barbara Holmes: "Bei vielen Frauen und auch Männern fehlen die Arbeitszeugnisse, die haben in der Eile nur selten etwas mitgenommen. Ihre Qualifikation ist lebenslange Erfahrung, aber es fehlen die Diplome auf dem Papier."
Um den Prozess nicht unnötig zu verlängern, plädiert sie für ein Konzept, das es für Jugendliche schon gibt: die Einstiegsqualifizierung der Arbeitsagentur. Ein Betrieb stellt dann einen Menschen 6 bis 12 Monate über ein sozialversicherungspflichtiges Praktikum ein, das vergütet wird.
"Das wäre eine gute Übergangslösung, damit jemand erste Schritte in den Beruf machen könnte, ohne vorher alle Deutschkurse vorweisen zu müssen. Ich bin überzeugt, dass Integration schneller funktioniert, wenn die Fachsprache direkt im Umgang mit den Kollegen gelernt wird", so Holmes. Deutschkurse für Ukrainer und Ukrainerinnen seien derzeit sowieso fast überall ausgebucht.
Zu guter Letzt würde es helfen, wenn sich die Ämter besser untereinander koordinieren würden, ergänzt Ortega-Dax. "Wir erleben es in der Praxis immer wieder: Wer vier verschiedene Ämter anruft, erhält vier verschiedene Antworten. Das ist hochgradig verwirrend – selbst als Muttersprachlerin, die in Deutschland groß geworden ist." Mehr Zusammenarbeit in Sachen Flüchtlingspolitik und flexiblere Lösungen würden es Ankommenden leichter machen, schnell im Arbeitsmarkt unterzukommen, "und das ist ja im Grunde das, was sich alle wünschen."