Wegen der Corona-Hygienevorschriften fiel in den vergangenen beiden Jahren der Schwimmunterricht für Klein- und Schulkinder aus. Experten warnen jetzt vor den Folgen: einer wachsenden Zahl von Nichtschwimmern und der Zunahme von Badeunfällen. Nach Informationen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) sind 59 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland keine sicheren Schwimmer.
Watson hat Schwimmlehrer und Verbände gefragt, wie die Situation sich darstellt und was Eltern selbst tun können, um ihre Kinder beim Schwimmenlernen zu unterstützen.
Alexander Gallitz, Vorsitzender des deutschen Schwimmlehrerverbandes, findet eindrückliche Worte: "Das fliegt uns in zehn Jahren um die Ohren", warnt er gegenüber watson. Denn dann würden Jugendliche, die als Kinder nie gelernt hätten, sicher zu schwimmen, an die Seen gehen. "Klar ist das die Risikogruppe. Die Kinder gehen vielleicht unter Gruppenzwang mit ins Wasser, obwohl sie sich unwohl fühlen", bestätigt auch Jochen Hanz, Geschäftsführer des Schwimmvereins SG Neukölln.
"Ein Schwimmbad in Laufen, Bayern, hat mir erzählt, dass sie dieses Jahr schon viel mehr Leute retten mussten, die sich überschätzt hatten", so Alexander Gallitz. "Und das ist in einem Bad, wo es Bademeister gibt. Man stelle sich das mal in einem See oder Bad vor. Da habe ich große Befürchtungen." Denn das Seepferdchen-Abzeichen werde in einem Becken mit ruhigem Wasser, sichtbaren Untergrund und schnell erreichbaren Beckenrand und Schwimmlehrer absolviert, wie Jochen Hanz erkärt: "Im See oder gar im Meer fallen die begünstigenden Faktoren alle weg, da ist das Abzeichen schnell nur eine scheinbare Sicherheit der Eltern."
In der Statistik tauchen Wasserrettungen gar nicht auf, gezählt werden dort nur Tote bei Badeunfällen. Gallitz geht davon aus, dass die Zahl der tödlichen Badeunfalle 2021 ähnlich hoch sein wird wie letztes Jahr, als sie bei 378 lag. In den nächsten Jahren aber befürchtet er einen dramatischen Anstieg.
Dabei könnten auch Eltern, die keinen Platz für Schwimmunterricht ergattern konnten oder auf der Warteliste stehen, schon viel selbst tun: "Es kommt beim Schwimmen auf die Grundlagen an. Die Frage lautet: Was ist eigentlich Schwimmen?", so Gallitz.
Laut offiziellen Vorgaben ist ein Freischwimmer, wer 15 Minuten durchgehend schwimmen kann, dabei mindestens 200 Meter in einem erkennbaren Schwimmstil zurücklegt und von der Bauch- in die Rückenlage wechseln kann. Dafür braucht es laut dem Vorstehenden des Schwimmlehrerverbands Alexander Gallitz schon 50 bis 60 Übungsstunden im Wasser. Ein Frühschwimmer dagegen ist ein Kind mit Seepferdchen-Abzeichen. Dafür muss es 25 Meter mit Ausatmung ins Wasser schwimmen können und einen Ring aus schultertiefem Wasser heraufholen.
"Das Ziel ist das Entscheidende an der ganzen Sache. Die Eltern haben als Ziel immer noch das Seepferdchen im Kopf, aber das ist Unsinn. Ich brauche kein Seepferdchen, um ein sicherer Schwimmer zu sein. Das ist nur ein Motivationszeichen. Das Schwimmenlernen ist ein lebenslanger Prozess", sagt Gallitz. Das Wichtigste sei, dass Kinder sich im Notfall über Wasser halten könnten und nicht in Schockstarre verfielen. Das könnten schon Zweijährige lernen. "Ein Erwachsener gerät in Panik und schlägt um sich, wenn er ins Wasser fällt. Ein Kind geht einfach unter." Deswegen sei es wichtig, so früh wie möglich mit dem Schwimmenlernen zu beginnen. Zwar könnten das prinzipiell auch noch Kinder, die älter als sechs Jahre sind. Doch nicht nur seien die Kinder in jungen Jahren am lernfähigsten, es gehe eben primär auch um deren Schutz.
"Wenn die Kinder jetzt wegen Corona den Schwimmunterricht verpasst haben, können sie immer noch Schwimmen lernen", sagt Gallitz. Er ermutigt die Eltern, mit ersten eigenen Übungen zu starten, um ihre Kinder an Wasser zu gewöhnen und die Grundfähigkeiten zu trainieren.
"Jeder Gang der Eltern mit den Kindern ins Schwimmbad ist sinnvoll und bringt die Kinder auch ohne sportdidaktische Kenntnisse voran", so Jochen Hanz vom SG Neukölln. Nur sollten sich die Eltern bewusst sein, dass die Kinder vielleicht gar nicht von ihren Eltern das Schwimmen beigebracht bekommen wollen. "Da können die Eltern der Freunde oder Onkel und Tante zur Abwechslung hilfreich sein", sagt er. Zum Schwimmenlernen empfiehlt er jedoch ein Alter zwischen vier und fünf Jahren.
Die Wassergewöhnung kann sogar noch früher beginnen. „Es fängt in der Badewanne an", bestätigt der Schwimmlehrer Gallitz. Zum Beispiel damit, den Kopf unter Wasser halten und die Augen öffnen, unter Wasser ausatmen oder ins Wasser springen. Hier sind vor allem die Eltern stark selbst gefragt: "Wichtig für Kinder ist vor allem, dass Wasser von Anfang an positiv belegt ist. Das macht es auch einfacher, den Kindern Schwimmen beizubringen", erklärt Raik Hannemann, Sprecher des Deutschen Schwimmverbandes. Wenn die Eltern selbst Angst vorm Wasser hätten, sollten sie versuchen, das nicht an ihre Kinder weiterzugeben.
"Schwimmen ist ein Kulturgut. Es ist nicht vergleichbar mit einem anderen Sport wie Fußball oder Radfahren. Denn Schwimmen ist auch für das weitere Leben wichtig, sonst wird es schnell lebensgefährlich", so Hannemann. Die zunehmende Zahl an Nichtschwimmern bereitet Gallitz aus dem gleichen Grund Sorgen: "Die nächsten zehn Jahre wird uns das um die Ohren fliegen", ist seine Meinung.
Dass es so viele Nichtschwimmer in Deutschland gibt, hat aber noch andere Gründe: "Viele Schwimmbäder machen zu und neue werden nicht gebaut", erklärt Gallitz. Dieser Trend zeichnet sich schon länger ab: Zwischen 2019 und 2000 schlossen laut Statista 1400 Bäder, umgerechnet 70 Bäder pro Jahr. Und es gibt trotz Förderung zu wenige Schwimmlehrer. "In den vergangenen eineinhalb Jahren konnten ja wegen Corona auch keine neuen Schwimmlehrer ausgebildet werden." Die Corona-Auflagen für Bäder waren seiner Meinung nach übertrieben: Zwar mache es Sinn, die Duschen zu sperren, aber im Chlor könnten ohnehin keine Viren überleben. Jetzt gibt es lange Wartelisten und zu wenig Schwimmlehrer und Bäder.
Das liegt aber nicht nur an Corona: Der Vorsitzende des deutschen Schwimmlehrerverbands nennt als Beispiel eine Förderung vom Land Baden-Württemberg über 9000 Euro für Schwimmunterricht. Um diese abzurufen, seien gewisse Forderungen zu erfüllen, was prinzipiell erstmal gut sei. Nur qualifizierte Schwimmlehrer könnten die Gelder abrufen.
"Aber was ist das überhaupt? Den Schwimmlehrer gibt es gar nicht als Beruf. Wir als Schwimmlehrerverband kämpfen dafür, dass es dafür Grundlagen gibt", so Gallitz. In ihren Vereinen sei die Ausbildung zum Schwimmlehrer derzeit mit 25 Stunden und der Begleitung von zwei bis drei Kursen angelegt. "Das ist aber nicht anerkannt und kriegt keinen Zuschuss, weil man dafür den C-Trainer haben muss."
Wo offizieller Unterricht nicht möglich ist, hat sich eine neue Nische entwickelt: Einen Trend stellte Alexander Gallitz während Corona nämlich fest: "rent a Schwimmlehrer". Es seien in jüngster Zeit vermehrt Anfragen von Leuten eingegangen, die einen eigenen Pool hätten und Schwimmlehrer für private Schwimmstunden für ihre Kinder suchten. Auch Erwachsene riefen an, die Unterstützung suchten für das Triathlon-Training, zum Kraulen-Lernen und einfach nur zur Stilverbesserung.
Vielleicht ja ein weiteres Standbein für die Vereine, die auch finanziell sehr unter Corona gelitten haben. "Wir hatten einen Mitgliederrückgang, nicht durch Austritte, sondern durch fehlende Eintritte. Das war finanziell spürbar, der Landessportbund Berlin konnte uns da etwas unterstützen", so Jochen Hanz vom SG Neukölln.
Zum Abschluss aber noch eine positive Nachricht: Der aktuelle Rückstand beim Schwimmenlernen könne wieder aufgeholt werden, ist sich Raik Hannemann vom Deutschen Schwimmverband sicher. Vielleicht nicht mit sechs, sondern dann mit acht Jahren. Mit etwas Geduld und Hilfe könnten aber alle Kinder Schwimmen lernen, die das wollten.