Im Jahr 1774 veröffentlichte Goethe seinen Roman "Die Leiden des jungen Werther" über den Rechtspraktikanten Werther, der sich aufgrund einer unglücklichen Liebschaft das Leben nahm. Angeblich folgte der Publikation eine Welle von Suizidfällen – eindeutig belegen lässt sie sich heutzutage nicht. Der Name "Werther-Effekt", der einen Zusammenhang zwischen medialer Berichterstattung über Selbsttötung und Nachahmungstaten herstellt, ist dennoch bis heute geblieben.
Auch wenn das Thema allgegenwärtig ist, uns im privaten Umfeld, in der Öffentlichkeit und selbst bei Netflix begegnet, fällt es uns schwer, angemessen darüber zu sprechen. Suizid ist vielleicht kein Tabuthema mehr – aber eines, das mit vielen Stigmata behaftet ist und einen feinfühligen sowie verantwortungsvollen Umgang benötigt.
Was es bedeutet, Suizidgedanken zu haben und wie wir reagieren können, wenn jemand in unserem Umfeld sie uns gegenüber äußert – darüber hat watson mit Ute Lewitzka gesprochen. Die Psychiaterin und Psychotherapeutin an der Uniklinik Dresden leitet die AG Suizidforschung und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Viele Menschen waren schon in Situationen, in denen sie mit Suizidgedanken konfrontiert worden sind. Manche mögen das als Schock empfinden – und selbstverständlich fällt es schwer, geliebte Menschen leiden zu sehen. Auf der anderen Seite neigen wir manchmal dazu – vielleicht auch aus Überforderung oder Ratlosigkeit – geäußerte Suizidgedanken nicht ernst zu nehmen.
"Es ist ein Mythos, dass jemand, der einen Suizid ankündigt, ihn nicht tatsächlich begeht – frei nach dem Motto: Hunde, die bellen, beißen nicht", sagt Lewitzka gegenüber watson. "Wenn jemand solche Gedanken äußert, müssen sie zunächst als Zustand der inneren seelischen Not ernst genommen werden."
Die Entwicklung suizidaler Gedanken verlaufe nicht bei jedem Menschen gleich, sagt die Psychiaterin. Häufig beginne sie allerdings mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit. Bald folge oft ein Bedürfnis nach Ruhe – danach entwickle sich womöglich langsam die reale Überlegung, sich das Leben zu nehmen. "Dann denken Betroffene über eine Methode nach, treffen womöglich schon entsprechende Vorbereitungen", erklärt Lewitzka. "Hier ist das Risiko besonders groß, denn die Betroffenen haben den Entschluss gefasst und Hilfe zu leisten, ist schwerer möglich. In dieser Phase gilt es dringend, zu intervenieren."
Warum jemand Suizidgedanken entwickelt, kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Oft wird der Drang, sich das Leben zu nehmen, mit Krankheit, vor allem einer psychischen Erkrankung gleichgesetzt – die liegt allerdings nicht immer vor. Wahrscheinlich wird sich der Umgang mit einem schwer depressiven Menschen, jemandem mit einer Persönlichkeitsstörung oder einer Sinnkrise nach einem schweren Schicksalsschlag jeweils unterschiedlich gestalten. Dennoch gilt laut Lewitzka:
Spätestens, wenn ein Suizidversuch gescheitert ist, hört man manchmal die nahezu gehässig wirkende Aussage: Wer versucht, sich umzubringen, wolle nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. "Dass Betroffene sie manipulativ äußern oder lediglich Aufmerksamkeit generieren wollen, ist ebenfalls ein Mythos, der zur Stigmatisierung beiträgt", sagt Lewitzka. "Wer Suizidgedanken äußert, erlebt eine tiefe seelische Not und zeigt: Er kann den aktuellen Zustand nicht mehr ertragen und sieht das Äußern von Suizidgedanken als einzigen Ausweg, um überhaupt noch gehört zu werden."
Ein weiterer Mythos sei laut der Expertin, dass, wenn jemand sich wirklich umbringen will, er nicht mehr zu retten sei. "Das ist eine Meinung, die teilweise sogar unter professionellen medizinischen Fachkräften verbreitet ist", meint Lewitzka, die selbst auch zum Thema Suizidprävention Mediziner fortbildet. Ihre Erfahrung zeigt:
Damit es allerdings gar nicht erst zum Suizidversuch kommen muss, gibt es zahlreiche Wege, diesen zu verhindern, sowohl von öffentlicher Seite als auch im privaten Umfeld. Ein wirksames Mittel zur Suizidprävention sei laut Lewitzka beispielsweise, bestimmte Orte unzugänglich zu machen, die häufig für Suizide aufgesucht werden – zum Beispiel Brücken und bestimmte Gebäude. "Untersuchungen zeigen, dass der Weg vom Entschluss zum Suizid bis hin zur Umsetzung meist relativ kurz ist. Wenn die Methode dann nicht zugänglich ist, wird das Vorhaben in der Regel aufgegeben."
Wenn ein Familienangehöriger, eine Freundin oder ein Bekannter seine Krise mit uns teilt und seine Gedanken, sich selbst töten zu wollen, ist das ein wichtiges Zeichen: "Wenn mich jemand von sich aus anspricht und mir seine Suizidgedanken gesteht, zeugt das schon einmal von großem Vertrauen", sagt Lewitzka. Dann heiße es, das Gesagte erst einmal vorbehaltlos anzunehmen – auch, wenn es der eigenen Realität fern sei.
Schwieriger ist es, wenn wir den Verdacht haben, eine geliebte Person durchlebt eine schwere Krise, zieht sich zurück, teilt seine Sorgen nicht mit uns. "Wenn jemand nicht von allein über suizidale Gedanken spricht, ich aber einen dringenden Verdacht habe, kann ich der Person meine Sorgen mitteilen", meint Lewitzka. "Dabei ist es wichtig, stets Ich-Botschaften zu senden, also zu sagen: 'Ich mache mir Sorgen um dich, ich habe den Eindruck, etwas belastet dich – möchtest du mir davon erzählen?'."
Die Expertin rät auch die Person im Zweifelsfall mehrfach anzusprechen, zu unterschiedlichen Tageszeiten, in unterschiedlichen Situationen – "natürlich immer vorsichtig und ohne mit der Tür ins Haus zu fallen".
Sollte die betroffene Person dann immer Schwierigkeiten haben, mögliche Sorgen oder Absichten zu teilen, können wir zumindest noch auf anonyme Hilfsangebote verweisen.
Auch, wenn es schwierig ist, über Suizid zu sprechen, sei es direkt mit unseren Mitmenschen oder auch in medialen Öffentlichkeit: Es ist wichtig, Betroffenen, die suizidale Gedanken haben, zu zeigen, dass sie nicht allein damit sind. Sie sind nicht komisch, falsch, schuld oder wertlos. Das sollten wir vermitteln, so gut wir können – und uns im Zweifelsfall professionelle Unterstützung suchen.