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Cannabis-Teillegalisierung: Kommt durch Telemedizin ein Suchtproblem?

Cannabis-Freigabe: Bis zu 50 Gramm Cannabis dürfen Clubmitglieder laut dem neuen Cannabis-Gesetz (CannG) monatlich bei Cannabis-Social-Clubs Abholen
Besser als jede Schmerztablette? Bild: pexels / elsa olofsson
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Verursacht Telemedizin ein Suchtproblem in Deutschland – oder hilft es dagegen?

Seit der Entkriminalisierung von Cannabis häufen sich in Deutschland auch die Möglichkeiten, online an medizinisches Cannabis zu kommen. Selten braucht es dafür eine stichhaltige Diagnose. Wird das Problem mit Cannabis dadurch potenziert oder verringert?
12.10.2025, 14:1612.10.2025, 14:45

"Pink Diesel", "Polar Cookies", "Cinderella Kush" oder "Waffle Truffle": Beim ersten Blick auf die Website von Green Medical hat man beinahe das Gefühl, man würde in einem bunten Süßigkeitenladen stöbern. Tatsächlich glitzern über diesen Namen aber keine Lollis und Schokoriegel, sondern grün schimmernde Cannabisblüten.

Kund:innen können hier zwischen verschiedensten Sorten mit unterschiedlich hohem THC-Gehalt wählen und sich diese per Online-Bestellung in eine Apotheke in der Nähe oder gar nach Hause liefern lassen. Was früher nur mithilfe der mehr oder weniger dubiosen Connection dieses einen Kumpels ging, funktioniert heute beinahe ebenso einfach wie die Sushi-Bestellung bei Lieferando oder Wolt.

Medizinisches Cannabis boomt seit der Entkriminalisierung

Seit der Teillegalisierung von Cannabis in Deutschland im vergangenen Jahr hat sich ein Markt für telemedizinische Plattformen wie Green Medical etabliert. Auch die Anbieter Bloomwell, Flowz oder Dr. Ansay werben mit schneller Lieferung von medizinischem Cannabis.

Laut dem Bundesdrogenbeauftragten wurden Stand August 2024 mehr als 80.000 Menschen in Deutschland mit medizinischem Cannabis behandelt. Zum Vergleich: 2017 waren es laut Bundesregierung gerade einmal 1000 Patient:innen.

Das Konzept hinter Plattformen wie Green Medical ist dabei ebenso simpel wie erfolgsversprechend: Patient:innen füllen online einen Anamnesebogen aus, der dann (ebenfalls digital) von Ärzt:innen geprüft wird. Halten diese eine Verschreibung von medizinischem Cannabis für sinnvoll, stellen sie – oft innerhalb weniger Stunden – ein Rezept aus, das dann in einer kooperierenden Apotheke einzulösen ist.

Green Medical agiert dabei als Vermittler zwischen Herstellern, Apotheken, Ärzt:innen und Kund:innen. Rezepte mit einem Klick, funktionierende Vernetzung zwischen Dienstleister:innen und Kund:innen: ein System, das der allgemeinen deutschen Gesundheitsversorgung in Zukunft durchaus helfen könnte.

"Je nach Wohnort wartet man teilweise ewig auf einen Arzttermin", betont Christoph Neumeier, Gründer von Green Medical, im Gespräch mit watson. "Daher müssen wir die Ressource Arzt in Zukunft leichter verfügbar und effizienter machen, das geht gar nicht anders."

Green Medical im Selbsttest: Gras-Bestellung mit einem Klick

Für Cannabis funktioniert das Ganze schon jetzt durchaus effizient. Und leichter verfügbar, das heißt im Fall von Green Medical: Patient:innen beantworten in dem Online-Formular je nach Beschwerden etwa 20 Fragen.

Bestellt man Cannabis beispielsweise wegen starker Menstruationsschmerzen, muss man diese auf einer Skala von 1 bis 10 quantifizieren, bei Darmerkrankungen soll unter anderem die Dauer der Beschwerden angegeben werden.

Anschließend überprüft eine:r der neun Ärzt:innen im Team von Green Medical den Anamnesebogen und entscheidet, ob eine Verschreibung von medizinischem Cannabis sinnvoll scheint. "Jede Rezeptanfrage wird individuell durch in Deutschland niedergelassene Ärztinnen und Ärzte überprüft", erklärt Neumeier. Laut Angaben des Unternehmens werden allerdings nur etwa 4,7 Prozent aller Rezeptanfragen abgelehnt.

Kiffen gegen den Schmerz?
Kiffen gegen den Schmerz?Bild: pexels / RDNE Stock project

Ein einfacher Selbstversuch zeigt: Die Angabe, dass schmerzhafte Menstruationsblutungen und PCOS die eigene Lebensqualität relativ stark beeinflussen, reicht, um innerhalb von 30 Minuten ein Rezept für 5 Gramm Cannabis zu erhalten.

Ob die Frage nach potenziellen Suchterkrankungen tatsächlich ehrlich beantwortet wurde, kann bei diesem Prozess nicht unabhängig überprüft werden. "Aber das kann auch ein Arzt im persönlichen Gespräch nicht", argumentiert Christoph Neumeier.

Mit der Vereinfachung dürften die telemedizinischen Plattformen zwar zumindest dem Schwarzmarkt für Cannabis viele Steine in den Weg legen – so wie ursprünglich vom Gesetzgeber angestrebt. Mit Preisen von teilweise unter 5 Euro pro Gramm schlägt man online schließlich die (noch in der Illegalität stattfindende) Konkurrenz.

Medizinisches Cannabis und das Problem mit der Regulierung

Doch ganz ohne Nebenwirkungen verläuft diese Entwicklung eben auch nicht. "Es ist anzunehmen, dass die über Telemedizin verkauften Mengen an medizinischem Cannabis größtenteils zum reinen Genusskonsum statt zu therapeutischen Zwecken verwendet werden", erklärt die Ärztekammer Berlin gegenüber watson.

Pro Monat darf jede:r Patient:in 100 Gramm medizinisches Cannabis kaufen. Eine gesetzliche Regelung, die zumindest unter eingefleischten Kiffer:innen ein Schmunzeln auslösen dürfte: Denn auch bei heftigsten Schmerzen sind 100 Gramm pro Monat nur schwer wegzurauchen.

In der Realität kaufen Kund:innen von Green Medical laut Unternehmensangaben zwar durchschnittlich 15 Gramm.

Dennoch: Auch diese Menge ist für den Alltagskonsum mehr als ausreichend. Die Einschätzung der Berliner Ärztekammer wird auch durch Daten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) belegt. Demnach ist die Menge von zu medizinischen Zwecken importiertem Cannabis von 8,1 Tonnen im ersten Quartal 2024 auf mehr als 43 Tonnen im zweiten Quartal 2025 gestiegen. Ob plötzlich so viele Schmerzpatient:innen in Deutschland eine neue Therapieform für sich entdeckt haben, ist fraglich.

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Was Deutschland in puncto Cannabis wirklich bräuchte

Zumindest stellt es in Europa aktuell einen Einzelfall in Bezug auf Cannabis dar. In keinem unserer Nachbarländer ist es für Erwachsene aktuell so einfach, an Gras zu kommen.

Fakt ist aber auch: Der Anbau von medizinischem Cannabis wird durch das BfArM kontrolliert und überwacht. Salopp gesagt ist es damit schon vom Prinzip her deutlich "sauberer" als Gras vom Schwarzmarkt – und in vielen Fällen eben auch günstiger.

Zwar birgt die vereinfachte Abgabe von Cannabis über Telemedizin die Gefahr, dass Suchterkrankungen nicht erkannt werden. Personen, die vor der Entkriminalisierung ein problematisches Konsumverhalten aufwiesen, können nun mit einem Klick und nahezu anonym ihr Gras bestellen. Immerhin wird die Menge aber ärztlich überwacht und im Zweifel infrage gestellt.

In puncto Risiken verweist die Ärztekammer Berlin wiederum erneut auf den Jugendschutz. "Cannabis beeinträchtigt bei jungen Menschen die Gehirnstrukturen und damit die Lern- und Gedächtnisleitungen. Je früher Jugendliche mit dem Konsum beginnen, desto gefährlicher ist die Droge", erklären die Expert:innen.

Wissenschaftler:innen kommen in einem kürzlich erschienenen Evaluierungsbericht zur Entkriminalisierung jedoch zu dem Schluss, dass der Konsum unter Jugendlichen seit der Verabschiedung des Gesetzes weiter zurückgegangen ist. Zudem seien bislang "keine drastischen Veränderungen in der Entwicklung von Suchterkrankungen oder der Gefährdung der Verkehrssicherheit festzustellen".

Bei Plattformen wie Green Medical dürfen Minderjährige ohnehin keine Bestellungen aufgeben – wobei die Altersangabe hier, wenn überhaupt, erst bei Abholung in der Apotheke überprüft wird. Gerade hier bräuchte es einen neuen Fokus: Nicht das Angebot von medizinischem Cannabis an sich ist das Problem, sondern der Umgang damit.

Wäre die aktuelle Bundesregierung bereit, sachlich über die Entkriminalisierung zu sprechen, könnte auch über Verbesserungen bei telemedizinischen Angeboten gesprochen werden. Denkbar wären hier einheitliche Verifikationsprozesse oder schärfere Kontrollmechanismen vonseiten der Ärzt:innen. Die aktuelle Debatte jedenfalls wirft nur ein Licht auf jene Probleme, die es auch ohne Entkriminalisierung schon gab.

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