Auswandern ist regelmäßig mit Abschieden verbunden. Nicht nur deshalb ist das schwieriger, als man anfangs denken könnte.Bild: Shutterstock / rogistok
Die Auswanderin
"Wann kommst du denn mal wieder nach Deutschland? Dein Opa ist ja nun auch nicht mehr der Jüngste." Mit diesen Worten hat sich meine Oma vor knapp einem Jahr von mir verabschiedet, kurz bevor ich ins Flugzeug ans andere Ende der Welt gestiegen bin. Bis heute hallt dieser Satz in meinem Kopf nach und jedes Mal, wenn ich innehalte und etwas zu lange nachdenke, verursacht er ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Bauch.
Die Abschiedsworte meiner Oma machen mich unfassbar wütend. Noch bevor ich überhaupt einen Fuß auf australisches Festland setzen konnte, wurde von mir bereits erwartet, Rückflugtickets in der Tasche zu haben. Ich hatte noch nicht einmal die Chance meine Familie zu vermissen und schon sollte ich das nächste Wiedersehen planen.
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Doch ihre Frage hat mich nicht nur unter Druck gesetzt, sondern noch einen weiteren wunden Punkt getroffen. Denn sie hat sichtbar gemacht, was mich bis heute oft nachts wach hält und was viele Leute davon abhält, ihren Traum vom Auswandern zu verwirklichen: das Gefühl der Schuld.
Umzug nach Australien – und die Familie bleibt zurück
Ob beabsichtigt oder nicht, die Abschiedsworte meiner Oma haben mich schuldig fühlen lassen. Denn übersetzt heißen sie so viel wie: "Dein Opa könnte in nächster Zeit sterben und wenn es so weit ist, dann wirst du nicht bei ihm sein."
Es ist nicht leicht, über den Tod von geliebten Familienmitgliedern nachzudenken. Doch sobald man auswandert, wird man automatisch mit diesem Teil der Realität konfrontiert. Entweder weil man selbst die Konsequenzen des eigenen Umzugs überdenkt, oder weil andere Leute einen darauf aufmerksam machen.
Wer ins Ausland umzieht, muss meist die eigene Familie im Heimatland zurücklassen. bild: pexels/Oleksandr P
Denn mit ihren Vorwürfen und Sorgen ist meine Oma nicht allein. Insbesondere bevor ich Deutschland verlassen habe, wurde ich regelmäßig daran erinnert, wie schwer so ein Umzug nach Australien für meine Familie, und insbesondere für meine Eltern sein muss.
Eine egoistische Entscheidung?
Immer wieder werde ich danach gefragt, was meine Eltern dazu sagen, dass ihr einzige Tochter 14.000 Kilometer weit entfernt auf einen anderen Kontinent gezogen ist. Und meine Antwort fällt immer gleich aus: "Die finden es natürlich nicht super, aber das ist ja meine Entscheidung." Immer wenn ich diesen Satz sage, habe ich Angst, wie eine trotzige Teenagerin zu klingen, die nach einem Streit am Abendessenstisch wütend in ihr Zimmer stapft, die Tür zuschlägt und aus lauter Kehle "DAS IST MEIN LEBEN" ruft. Aber fast so fühle ich mich auch, wenn ich mich andauernd vor teilweise Fremden rechtfertigen muss.
"Natürlich mache ich mir Gedanken über die Zukunft und darüber was passiert, wenn meine Eltern alt sind."
Vielleicht war mein Umzug nach Australien eine egoistische Entscheidung. Doch es war keine Entscheidung, die ich leichtfertig getroffen habe. Denn natürlich vermisse ich meine Freunde und Familie – sehr sogar. Natürlich fühle ich mich als Außenseiterin, wenn ich Geburtstage, Feiertage oder einfach nur gesellige Abende beisammen verpasse. Natürlich mache ich mir Gedanken über die Zukunft und darüber, was passiert, wenn meine Mama und mein Papa alt sind. Und natürlich frage ich mich, ob ich eine schlechte Tochter bin.
Wiedersehen nach fast einem Jahr
Während ich diese Kolumne schreibe, sitze ich erstmals seit zehn Monaten wieder mit meinen Eltern im selben Raum. Sie haben den langen und teuren Flug nach Australien auf sich genommen, um mich wiederzusehen und dafür bin ich unfassbar dankbar. Doch obwohl ich nun endlich gemeinsame Zeit mit ihnen verbringe, lässt mich das Gefühl der Schuld weiterhin nicht komplett los.
"Was einem niemand übers Auswandern erzählt, ist, dass man sich in einem permanenten Limbo zwischen Wiedersehen und Abschieden befindet."
Denn immer, wenn ich Spaß mit meinen Eltern habe, meldet sich eine kleine Stimme in meinem Kopf zu Wort, die mich daran erinnert, dass der nächste Abschied nicht mehr allzu weit entfernt ist. Dass ich den Schmerz der vorerst letzten Umarmung noch einmal erleben muss, so wie ich es vor fast einem Jahr bereits getan habe. Die Tränen meiner Mama werden mir erneut die Schultern durchnässen und ich werde erneut meinem Papa dabei zusehen müssen, wie er versucht, eine tapfere Miene aufzusetzen. Und ich alleine bin schuld daran.
Als Auswanderin muss man sich immer wieder von neuem verabschieden. bild: pexels/Andrea Piacquadio
Was einem niemand übers Auswandern erzählt, ist, dass man sich in einem permanenten Limbo zwischen Wiedersehen und Abschieden befindet. Monatelang wartet man auf den langersehnten Besuch, wartet darauf, sich endlich wieder in die Arme schließen zu können; und wenn es dann so weit ist, fürchtet man sich vor der Flughafendurchsage, die das Boarding des Fliegers und das Ende der gemeinsamen Zeit verkündet.
"Das Gefühl der Schuld schwebt andauernd über mir wie eine graue Regenwolke, die einen Cartoon-Charakter auf Schritt und Tritt verfolgt."
Das Schlimmste an der Sache ist, dass man seine Wut und Frustration auf niemanden anderen als auf sich selbst projizieren kann. Schließlich habe ich allein die Entscheidung getroffen, Deutschland zu verlassen. Und alle anderen müssen nun mit dieser Entscheidung leben.
Ich kann nicht überall gleichzeitig sein
Das Gefühl der Schuld schwebt andauernd über mir wie eine graue Regenwolke, die einen Cartoon-Charakter auf Schritt und Tritt verfolgt. Und trotzdem würde ich immer wieder ins Flugzeug steigen und Deutschland verlassen. Denn was wäre die Alternative?
Es ist nicht leicht, wenn man an mehreren Orten Zuhause ist. bild: pixabay/JESHOOTS-com
Ich liebe mein:e australische Partner:in und ich liebe das Leben, das wir uns hier gemeinsam aufgebaut haben. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein, vor allem nicht, wenn ich dafür meine eigenen Wünsche und Lebenspläne über den Haufen werfen müsste – und die finden momentan nun mal in Down Under statt.
Soll ich hier alles aufgeben und die nächsten 40 Jahre unglücklich in meinem Heimatdorf in Baden-Württemberg sitzen und darauf warten, dass meine Eltern sterben – nur um mein Gewissen zu beruhigen? Wohl kaum. Das würde weder mich, noch meine Familie zufriedenstellen.
Regelmäßige Besuche und Notfall-Ersparnisse
Und was meine Oma angeht: Schon während ich in Deutschland gelebt habe, habe ich meine Großeltern und entfernten Verwandten nur einmal oder maximal zweimal im Jahr gesehen. Das heißt, sie sind es bereits gewohnt, mich nicht allzu häufig zu Gesicht zu bekommen. Und obwohl ich niemandem meine Zeit oder Energie schulde, habe ich mir fest vorgenommen, regelmäßig nach Deutschland zu reisen.
Seitdem ich ausgewandert bin, sorge ich stets dafür, immer genug Geld auf dem Sparkonto zu haben, um in Notfällen spontan in den nächsten Flieger steigen zu können. Das garantiert zwar trotzdem nicht, dass ich mich eines Tages von meinem sterbenden Opa verabschieden kann, doch zumindest kann ich auf diesem Wege mit dem Gefühl der Schuld ein bisschen besser umgehen.
Wer Tiere liebt, wird es kennen: Diesen Impuls, alles, was süße Vierbeiner tun, digital per Foto oder Video festhalten zu müssen. Ist es das eigene Tier, kann man hierbei zum Glück tun und lassen, was man will.