Corona hat dieses Jahr vieles im Alltag der Deutschen verändert, nur eines bleibt weiterhin Thema: Jede dritte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt. Etwa jeder Vierten widerfährt diese Erfahrung durch ihren Partner, meist im Kontext von Trennungen – so das Familienministerium.
Ein Abwärtstrend ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Zwischen 2015 und 2019 wurden 11,2 Prozent mehr Opfer von Partnerschaftsgewalt durch das Bundeskriminalamt erfasst, dabei nahm vor allem die Anzahl der "vorsätzlichen, einfachen Körperverletzung" zu – also direkte Gewalt durch Schubsen oder Schlagen, bei der aber keine Werkzeuge zum Einsatz kommen (gefährliche Körperverletzung) und keine Folgeschäden bleiben (schwere Körperverletzung). In über 81 Prozent der Fälle ist das Opfer dabei weiblich.
Und auch wenn finale Zahlen für dieses Jahr noch ausstehen, sind sich Experten in einer Sache sicher: Die Corona-Krise hat zu mehr Frust und Isolation geführt und infolgedessen auch zu mehr häuslicher Gewalt. Heute, am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, bat watson Heike Herold, Geschäftsführerin der Frauenhauskoordinierung, um ihre Einschätzung der aktuellen Lage.
Von mehreren Bundesländern war in den vergangenen Monaten zu hören, in den Frauenhäusern seien seit Beginn der Corona-Krise deutlich mehr Hilferufe Schutz suchender Frauen eingegangen, verlässliche Zahlen gäbe es für 2020 zwar noch keine, sagt Herold. Sie gehe jedoch davon aus, dass der Lockdown und Corona die Situation in vielen deutschen Haushalten verschlimmert hat.
"Was wir wissen, ist, dass es in Partnerschaften, in denen Probleme mit Gewalt ausgetragen werden, zusätzliche Stressfaktoren als Verstärker der Gewalt wirken", sagt sie. "Die Corona-Krise liefert genau solche Stressfaktoren." Viele Frauen waren wochenlang mit ihrem Mann und ihren Kindern vor allem zu Hause. Homeschooling, drohende Arbeitslosigkeit, ein verringertes Haushaltseinkommen, ein lauter Geräuschpegel – all das fördere häusliche Konflikte, meint Herold:
Verstärkend käme hinzu, dass "der Trost und die soziale Unterstützung durch Freundinnen, Kolleginnen oder Verwandte für die Betroffenen unter den Corona-Maßnahmen leider stark eingeschränkt sind."
Deshalb rief zuletzt selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dazu auf, Gewalt gegen Frauen niemals hinzunehmen. "Jeder Einzelne ist aufgefordert, sich einzuschalten, wenn Gewalt droht oder gar geschieht", sagte die Kanzlerin am Samstag in ihrem wöchentlichen Podcast.
In Deutschland stünden rund 350 Frauenhäuser sowie Wohnungen, die Zuflucht böten, bereit, sagte die Bundeskanzlerin weiter. Doch das war schon immer zu wenig, so Herold. In Deutschland hätten die Frauenhäuser insgesamt 6800 Plätze, dabei bräuchten sie laut Berechnungen der Istanbul-Konvention ("Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt") etwa 21.400 Betten. Herold sagt dazu:
Durch die aktuellen Hygiene-Maßnahmen können nicht alle existierenden Frauenhäuser voll belegt werden, auch wenn einige, besonders in deutschen Ballungsräumen, dieses Jahr besonders häufig angefragt wurden. Alternativ würden deshalb nun leerstehende Hotels und Ferienwohnungen von den Kommunen als Ersatz angemietet.
"Andererseits erleben wir auch eine gesunkene Nachfrage in einigen Regionen. Und das macht mir, ehrlich gesagt, noch mehr Sorge", berichtet Herold, "weil wir davon ausgehen, dass die Gewalt zugenommen hat, die Frauen sich aber nicht mehr an uns wenden."
Sich aus einer gewalttätigen Beziehung zu befreien, sei unter normalen Bedingungen schon ein schwieriger Schritt, die Unsicherheiten dieses Jahr würden Betroffene aber zusätzlich abschrecken. "Einige Frauen sind jetzt noch abhängiger von ihrem Mann als vorher. Wenn sie ihr Heim verließen, müssten sie für die Kinder neue Schulen und Kitas finden, eine neue Wohnung, einen neuen Job – so ein Neustart ist in diesem Jahr schwieriger als jemals zuvor." Noch dazu schreckt viele ab, dass in Frauenhäusern Zimmer und Sanitäranlagen oft geteilt werden müssen. Herold sagt:
Zudem mussten die Beratungsstellen dieses Jahr auf digitale Angebote umstellen – und das schaffe Hürden: Schutzsuchende Frauen müssten zumindest kleine Online-Kompetenzen haben, dann fehlte es zu Beginn auch an technischer Ausrüstung vonseiten der Beratungsstellen sowie Möglichkeiten der Übersetzung für Frauen mit geringen Deutschkenntnissen. "Die Kolleginnen merken einfach, dass die digitale Beratung sowohl technisch schwieriger ist als auch menschlich – das Vertrauen lässt sich nicht so schnell aufbauen", so die Berlinerin.
Die zunehmende Digitalisierung im Corona-Jahr hat aber noch ein weiteres, trauriges Phänomen zur Folge, wie UN Women, das Frauen-Organ der Vereinten Nationen, kürzlich feststellte: Seit Covid-19 erleben Frauen immer mehr Belästigungen und Gewalt über Online-Portale.
In ihrem entsprechenden Bericht dazu erläutert die Organisation, dass Quarantäne-Maßnahmen und Lockdowns insgesamt zu einer stärkeren Nutzung des Internets geführt haben (Steigerung um 50 bis 70 Prozent). Dabei nahm leider auch die Anzahl an Online-Gewalt zu: "Frauen und Mädchen erreichen Gewaltandrohungen, sexuelle Belästigungen, Stalking, Zoombombing und Sex-Trollereien", heißt es in dem Bericht. So seien einigen Opfern während Online-Events pornografische Videos zugeschickt worden, andere wurden während Zoom-Konferenzen mit der Zusendung von rassistischem und sexistischem Material überrumpelt.
Diese Form von Gewalt kann zu erhöhtem Stress, Depressionen, Panikattacken und dem Verlust des Selbstbewusstseins führen, wie Forschungen der UN Women in der Vergangenheit ergaben, heißt es im Bericht weiter, gerade weil sich die Opfer "machtlos" fühlten und nicht auf "den Missbrauch reagieren könnten". Unabhängig von Covid-19 betrifft dieses Phänomen in Europa übrigens besonders junge Frauen: Die Wahrscheinlichkeit, online belästigt und bedroht zu werden sei im Alter zwischen 18 bis 29 Jahren am höchsten.
Auch die Organisation Plan International bestätigt diesen Trend: In einer Umfrage vom Oktober unter 14.000 Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren (1003 von ihnen aus Deutschland) gaben 58 Prozent an, in den sozialen Medien bedroht, beleidigt und diskriminiert worden zu sein. In Deutschland waren es sogar ganze 70 Prozent. In der Folge zogen sich die Mädchen zunehmend aus öffentlichen Diskussionen zurück oder meldeten sich zum Teil ganz aus den sozialen Netzwerken ab (8 Prozent).
Mundtot machen, klein halten, einschüchtern – damit all dies in Zukunft seltener passiert, hat Plan International klare Forderungen in einem offenen Brief an die Plattform-Anbieter: Sie sollen in Zeiten der Pandemie besonders darauf achten, die Sicherheit von Frauen zu gewährleisten, indem sie transparente und schnell zugängliche Beschwerdestellen einrichten. Damit Mädchen in Zukunft mehr Schutzräume haben – zumindest online.
(jd/mit Material der dpa)