Dass Feminismus die Welt zu einem besseren Ort macht, ist im Jahr 2022 keine Neuheit mehr. Warum man Feminismus immer intersektional denken muss, erklärt Autorin und Journalistin Şeyda Kurt im Interview.
Sie berichtet, auf welche Weise Rassismus und Sexismus miteinander verkettet sind, wann es wichtig ist, seine eigenen Privilegien zu checken und warum sie sich über die vielen Menschen in Deutschland wundert, die ukrainischen Frauen im Angesicht des Krieges ihre Solidarität bekunden – sie aber gleichzeitig die eigene Drecksarbeit erledigen lassen.
watson: Warum brauchen wir intersektionalen Feminismus? Und was ist das überhaupt?
Der Begriff "intersektionaler Feminismus" ist eigentlich ein wenig irreführend, weil Leute es mit einer Form von feministischer Bewegung verwechseln. Eigentlich geht es bei Intersektionalität aber um eine gewisse Analyseform. Der Begriff geht auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw zurück, aber in der Realität ist Intersektionalität schon seit Jahrzehnten der Kern vieler feministischer Bewegungen, etwa von migrantischen, schwarzen oder sozialistischen Frauenbewegungen. Ihnen geht es darum, zu betonen: Unterdrückungssysteme verlaufen nicht geradlinig und eingleisig, sondern kreuzen und vermengen sich miteinander.
Kannst du das an einem Beispiel erklären?
Gerade die Überschneidung von zum Beispiel Sexismus und Rassismus bringt für besonders marginalisierte Gruppen ganz spezifische Formen der Unterdrückung hervor, etwa auf dem Arbeitsmarkt. Oder für schwarze, migrantische Frauen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind, aber von einer rassistischen Gesellschaft keinen Schutz erfahren. Das bringt etwa geflüchtete Frauen ohne sicheren Aufenthaltstitel in lebensbedrohliche Situationen, wenn sie beispielsweise einen gewalttätigen Partner nicht verlassen können, weil ihnen dann eine Abschiebung droht.
Warum ist es wichtig, das zusammen zu denken?
Weil die Ignoranz gegenüber dieser Realität, wie im bereits genannten Beispiel, lebensbedrohlich sein kann. Die meisten weißen, westlichen feministischen Bewegungen berücksichtigen bis heute in ihrer Agenda nicht die Zusammenhänge von Geschlechterungerechtigkeit, Migrationspolitiken oder Kolonialismus. Und auch nicht, dass Millionen von Frauen von Rassismus betroffen sind. Meist verteidigen sie sogar diese Grenzregime und Rassismen. Ihre Analyse geht kaum über die Frage hinaus: Wie erkämpfen wir uns mehr Macht, einen Platz am Tisch? Wie kommen wir in die Leitungspositionen? Das ist keine Politik für die Mehrheit der Frauen.
Die Interessen von queeren, nicht-weißen Frauen werden vom Feminismus also nicht berücksichtigt, wenn er nicht intersektional gedacht ist?
Es gibt zum Beispiel diesen berühmten Satz von Sojourner Truth. Sie kämpfte als schwarze, ehemals versklavte Frau im 19. Jahrhundert gegen die Versklavung und musste feststellen, dass sie dafür von weißen, bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, die für sich ja eigentlich beanspruchten, für die Rechte aller Frauen zu kämpfen, keine Unterstützung erfuhr. Ganz im Gegenteil, viele hießen die Versklavung und Entrechtung gut, weil sie selbst davon profitierten. Auf einer Konferenz klagte Sojourner Truth das vor den versammelten weißen Frauen mit einem berühmt gewordenen Satz an: "Ain‘t I a woman?" Was ist eigentlich mit mir als Schwarze, ehemals versklavte Frau?
Also hängen verschiedene Formen der Diskriminierung immer zusammen?
Ich denke, dass diese Ideologien nicht nur miteinander zusammenhängen, sondern, dass sie einander sogar bedingen: Rassismus kann es nicht ohne das Patriarchat geben, das Patriarchat kann es nicht ohne Rassismus geben. Und all das geht aus einem Kapitalismus in der Tradition des Kolonialismus hervor. Diese Verkettung müssen wir anerkennen, um überhaupt diese Systeme angreifen und nicht nur einzelne Symptome behandeln zu können.
Wenn man über Diskriminierung spricht, spricht man im Umkehrschluss auch über Privilegien. Ein Beispiel ist das "outside privilege", also ein Privileg von allen Menschen, die nicht inhaftiert sind. Geht das nicht zu weit? Was hat es für einen Sinn, diese (scheinbaren) Privilegien anzuerkennen?
Ich glaube, diese ganze Privilegien-Debatte kann vielleicht im ersten Moment wichtig sein, um junge Menschen zu politisieren. Damit sie erkennen, dass vieles von dem, was sie für selbstverständlich gehalten haben, alles andere als natürlich gegeben ist. Vielleicht hilft es, damit sie merken, dass es nicht die natürliche Ordnung der Welt ist, dass die Gefängnisse mit armen Menschen, die meist von Rassismus betroffen sind, gefüllt sind, oder damit sie erst mal überhaupt auf diese Gefängnisse schauen. Auch kann das Erkennen von Privilegien bei der Frage nützen: Wer spricht hier für wen? Wer spricht für Menschen, die Rassismus erfahren? Wer spricht im Feminismus? Wer hat offenbar ganz mühelos Bühnen, Ressourcen und Geld zur Verfügung, um sich Gehör zu verschaffen?
Und wenn man diese Privilegien also erkannt hat: Wie kann man dann etwas dagegen tun?
All dieses Privilegien-Checken nützt nichts, wenn diese Selbsterkenntnis nicht dazu führt, dass diese Menschen sich konkret für andere gesellschaftliche Verhältnisse einsetzen, sich mit anderen politisch organisieren. Daher sehe ich diese Privilegien-Debatte auch kritisch, weil ich beobachtet habe, dass Menschen sich sehr stark darauf ausruhen und es einfach dabei bleibt, dass weiße Menschen sich nun für ihre weißen Privilegien schämen. Dieser Diskurs geht oftmals in ein Shaming über. Und die wirklich wichtigen Fragen bleiben auf der Strecke.
Welche Fragen wären das?
Beispielsweise: Warum landen überhaupt so viele arme, rassifizierte Menschen im Gefängnis? Welche Gesetze wurden erfunden, um gerade diese Menschen zu kriminalisieren – zum Beispiel durch Drogengesetze – und wie schaffen wir es, die abzuschaffen? Nur dadurch, dass wir Privilegien "gerecht" verteilen, ist die Welt nicht wieder in Ordnung. Viel eher sollten wir das gesellschaftliche System, in dem Privilegien hergestellt werden, an sich infrage stellen. Das Privileg eines weißen Menschen, nicht ständig von der Polizei kontrolliert zu werden, will ich überhaupt nicht abstreiten. Viel eher will ich aber überlegen, ob wir die Institution Polizei eigentlich wollen und brauchen.
Damit sich strukturell wirklich etwas ändert, müssen Menschen zuerst gewisse Probleme ansprechen. Bist du der Meinung, dass nur Betroffene über die jeweilige Diskriminierung sprechen dürfen, die sie erfahren? Dürfen also beispielsweise weiße Menschen nicht über Rassismus sprechen?
Ich würde sogar sagen, weiße Menschen müssen sich gegen Rassismus aussprechen. Es wäre ja schön, wenn eine weiße Mehrheitsgesellschaft anerkennen würde, dass Rassismus nicht das Problem von rassifizierten Menschen ist, sondern ihr eigenes. Und dass er aus ihrer eigenen Geschichte von Kolonialismus und Ausbeutung hervorgeht. Weiße Menschen müssen sich gegen Rassismus aussprechen, cis-Männer müssen sich gegen das Patriarchat aussprechen, cis-Frauen gegen Transfeindlichkeit und so weiter. Und das ist eine Erwartung, die ich absolut an alle Menschen stelle. Ein No-Go ist es allerdings, wenn Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, davon profitieren, dass sie darüber sprechen.
Inwiefern?
Ich weiß noch, dass damals zu der Zeit, als die Black Lives Matter Bewegung vor zwei Jahren in Deutschland relativ populär wurde, plötzlich weiße Autor:innen in großen Tageszeitungen sehr viel Platz bekommen haben. Sie haben ausgiebig über ihre Scham und Schuld als weiße Menschen erzählen dürfen. Darüber, wie sehr sie sich heute schämen, dass sie damals mit 12 Jahren rassistisch waren. Meine Meinung dazu: Cool, dass du das langsam einsiehst, aber es ist super merkwürdig, wenn du dafür einen sehr prominenten Platz in der Tageszeitung bekommst und damit auch noch Geld verdienst. Dieses Problem der Ökonomisierung steht für mich immer im Vordergrund.
Es kommen ja gerade viele Frauen aus der Ukraine nach Deutschland und man kann davon ausgehen, dass diese geflüchteten Frauen anders diskriminiert werden als zum Beispiel Frauen, die aus Syrien geflüchtet sind. Was hat das mit intersektionalem Feminismus zu tun?
Der intersektionale Feminismus könnte berücksichtigen, warum diese Frauengruppen so unterschiedliche Formen von Diskriminierung erfahren und was das mit der deutschen Geschichte und mit einem globalen Kapitalismus zu tun hat. Es verwundert mich tatsächlich gerade sehr, dass so viele Menschen geradezu übersprudeln vor Solidarität den ukrainischen Frauen gegenüber. Während es genau diese Frauen sind, die seit Jahren in Deutschland von extremer Ausbeutung betroffen sind, vor allem im Pflege-Sektor und bei deutschen Familien zu Hause. Sie pflegen deutsche Senior:innen und Kinder, kümmern sich um deutsche Haushalte und das meist ohne Kranken- oder Rentenversicherung. Gleichzeitig müssen sie ihre eigenen Familien in der Ukraine zurücklassen. Sie sind super häufig von sexualisierter Gewalt und sexueller Ausbeutung betroffen. Aber das interessiert die meisten bis heute nicht.
Woran könnte das liegen?
Wir haben in Deutschland nun mal eine Pflege-Krise. Die deutsche Gesellschaft ist auf diese Arbeitskräfte aus der Ukraine oder aus anderen Ländern in Osteuropa schlichtweg angewiesen. Diese Ausbeutung wird natürlich verschleiert, denn wenn man sie offenlegen würde, würden viele Deutsche erst verstehen, mit was für einer Pflege-Krise wir es eigentlich gerade zu tun haben. Und dass es die ausgebeuteten Frauen sind, die dafür sorgen, dass unser gesellschaftliches System nicht komplett zusammenbricht. Dementsprechend sind diese Frauen von anderen Formen der Ausbeutung oder Diskriminierung betroffen, als zum Beispiel syrische Frauen. Dabei spielen ganz andere Rassismen oder imperiale Logiken eine Rolle.
Woran erkennst du das?
Beispielsweise daran, dass Politiker:innen bereits jetzt davon sprechen, dass sie die ukrainischen Geflüchteten superschnell in den Arbeitsmarkt integrieren wollen. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum die deutsche Politik im Moment viel großzügiger ist. Weil die Vorstellung vorherrscht, dass diese Menschen besser ausgebildet sind und deshalb schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden können als beispielsweise syrische Frauen. Da gibt es die rassistischen und sexistischen Annahmen, dass syrische oder arabische Frauen entmündigt und passiv seien, dass sie sowieso nur zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen werden. Bei den ukrainischen Frauen denkt man, sie machen auf dem Arbeitsmarkt keine großen Probleme. Zudem spielt auch eine große Rolle, dass es eine extrem schlimme Sexualisierung von ukrainischen Frauen gibt – und zwar schon lange. Das ist der springende Punkt bei Intersektionalität: Wenn man anfängt, diese Dinge zusammen zu denken, erweitert sich die Analyse immer mehr.
Hast du manchmal ein Gefühl von Ohnmacht, wenn du all diese Zusammenhänge und Verflechtungen erkennst?
Ganz im Gegenteil. Wenn man anfängt, Dinge in einem globalen Zusammenhang zu betrachten, kommt man auch mit vielen verschiedenen feministischen Bewegungen in Berührung, die an anderen Orten der Welt ihre Kämpfe führen. Man lernt andere Formen von Widerständen kennen, von denen man sich inspirieren lassen kann – und muss. In Deutschland ist zum Beispiel das Thema Kolonialismus oder die Kritik am Kolonialismus total "in". Manchmal verkommt es vollends zu einer akademischen Floskel und gerade dafür, dass das nicht passiert, ist es wichtig, sich die dekolonialen oder kommunistischen Kämpfer:innen in Südamerika oder in Afrika anzuschauen. Für mich offenbart sich da eine Möglichkeit, von anderen Menschen und ihren Kämpfen zu lernen.
Gibt es in der deutschen Sprache Hindernisse in Bezug darauf, wie wir über Intersektionalität sprechen können?
Ich glaube nicht, dass das Deutsche sich da als besonders unfähig oder unpassend darstellt. Problematisch finde ich eher, dass im deutschen Kontext sehr gerne einfach von den USA abgeschaut und dann versucht wird, deutsche Realitäten in US-amerikanische Kategorien zu quetschen. Das merkt man zum Beispiel an Diskussionen zu der Kategorie weiß. Wenn darüber diskutiert wird, welche Menschen eigentlich als weiß gelten.
Gibt es das Problem auch im Krieg gegen die Ukraine?
In den letzten Tagen gab es Diskussionen darüber, inwiefern Ukrainer:innen weiß sind. Menschen haben beklagt, dass damit ihre Rassismuserfahrungen verschleiert werden, wenn Ukrainer:innen als weiß bezeichnet werden. Und daran merkt man, wie tricky das eigentlich ist, wenn man mit diesen Kategorien arbeitet und dann darauf beharrt, dass sie der Maßstab aller Dinge sind – zum Beispiel weiß als eine Kategorie zu setzen, in der Menschen keinen Rassismus erfahren. Natürlich sind die meisten ukrainische Menschen weiß, wenn man das in einem globalen Zusammenhang betrachtet. Aber das bedeutet nicht, dass sie in Deutschland keine Fremdenfeindlichkeit oder auch Rassismus erfahren können. Durch die Aneignung von Begriffen aus den USA werden solche Diskussionen erschwert.
In deinem Buch "Radikale Zärtlichkeit" entwirfst du eine Vision von einer queeren Gesellschaft. Wäre diese Gesellschaft intersektional? Wie würden wir in dieser Gesellschaft miteinander sprechen?
Mit den Worten, die ich jetzt habe, kann ich die perfekte Vision der Gesellschaft gar nicht beschreiben. Wenn ich sie beschreiben würde, müsste ich sie in die Realität meiner vorhandenen Worte hineinzwängen. Aber ich glaube, dass in dieser Gesellschaft sehr vieles anders laufen würde. Nicht nur die Sprache in Form von Wörtern und Sätzen, die wir formulieren, wäre anders. Sondern auch die Art und Weise, wie sich Körper begegnen oder wie über Gerechtigkeit gedacht und gehandelt wird. Wie mit – und ich finde, da spielt der Faktor der Sprache eine große Rolle – Opfern oder Betroffenen von sexualisierter Gewalt zum Beispiel umgegangen wird. Ob ihnen geglaubt wird, ob es kollektive Wege oder Strategien gibt, mit dieser Gewalt umzugehen und dabei die Perspektive und die Betroffenheit der Menschen, die Gewalt erlitten haben, in den Vordergrund zu stellen.
Was sind Themen, die in feministischen Diskursen in Deutschland zu kurz kommen?
Auf jeden Fall die Pflege-Krise, das Thema habe ich ja eben schon angesprochen. Im Zuge der Corona-Krise wurde zwar vermehrt über die Pflege-Krise im Kontext von Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen gesprochen. Aber ein großer Teil dieser Form von Ausbeutung passiert noch immer im Verborgenen. Osteuropäischen Frauen wird der Pass abgenommen, viele landen auf der Straße, nachdem ihnen gekündigt wurde, weil sie sich schämen, zurück nach Hause zu gehen. Wir müssen unbedingt darüber sprechen, weil sich genau an der Realität dieser Menschen abzeichnet, was für ein Problem wir in unserer Gesellschaft haben.
Wie könnte das Problem angegangen werden?
Während sich viele liberale Feministinnen, viele bürgerliche Frauen darüber freuen, dass auch sie die Möglichkeit haben, Karriere zu machen und sich als selbsternannte girlbosses behaupten, wird verschleiert, dass andere Frauen bei diesen weißen bürgerlichen Karrierefrauen zu Hause den Dreck wegmachen. Und das sind zum Teil diese ukrainischen, osteuropäischen Frauen. Und früher waren es die Frauen der sogenannten Gastarbeiter, auch meine Großmutter und Mutter haben für deutsche Familien und Firmen geputzt. Deswegen müssen Probleme wie Ausbeutung und Rassismus immer global gelöst werden. Denn die Frage ist ja: Warum landen diese Frauen überhaupt hier und müssen diese Scheißjobs machen? Wir dürfen mit unserer Kritik nicht in Deutschland bleiben, sondern müssen den Blick immer über die Landesgrenzen hinaus lenken und über den Tellerrand hinausschauen.
Wie könnte ein Intersektionaler Feminismus, der in der Gesellschaft umgesetzt wurde, dein Leben verändern?
Ich wäre ein Mensch mit viel weniger Angst. Ich würde mir weniger Sorgen machen um meine Freund:innen, um meine Mutter und meine Schwester, wenn ich wüsste, dass sie in einer Gesellschaft, die auf Gemeinschaft und Fürsorge gründet, die dezidiert feministisch, antirassistisch, antikapitalistisch ist, ein anderes Leben hätten und ihre Körper ganz anders geschützt wären, ihre Räume ganz anders geschützt werden. Ich würde ein sorgloseres Leben führen.