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Herzchirurgin Dilek Gürsoy über ihren Weg und den Fleiß von Arbeiterkindern

Herzchirurgin Dilek Gürsoy hat sich beruflich nach oben gekämpft.
Herzchirurgin Dilek Gürsoy hat sich beruflich nach oben gekämpft. bild: Simon Erath
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Herzchirurgin Dilek Gürsoy spricht über ihren Weg und den Fleiß von Arbeiterkindern

25.09.2022, 12:3726.09.2022, 13:39
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Deutschlands Realität bezüglich Bildungs- und Chancengleichheit ist auch im Jahr 2022 immer noch ernüchternd.

Arbeiterkinder schaffen es seltener an Universitäten als Nachwuchs von Akademiker:innen. Nur nahezu halb so viele Kinder mit Migrationshintergrund schaffen den Übergang von der Grundschule an Schulen, die einen Hochschulabschluss ermöglichen. Das besagt eine aktuelle Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit dem Titel "Gleiche Chancen für alle? Konzeption und Ergebnisse eines 'Migrations-Bildungstrichters'".

Dilek Gürsoy ist so ein Arbeiterkind mit Migrationshintergrund. Ihr Vater starb, als sie ein Kind war, ihre Mutter war Fabrikarbeiterin und Analphabetin. Sie wurde eine der wenigen Herzchirurginnen Deutschlands und implantierte 2012 als erste Frau in Europa ein Kunstherz.

Heute hat Dilek Gürsoy eine eigene Privatpraxis für Herzchirurgie in Düsseldorf und ist Chefärztin in einer Herzklinik. Sie wird als Speakerin vor tausenden Schüler:innen bei den Inspiration Days von "teech" sprechen, einer Karrieremesse, die vom 28. bis 30. September 2022 online stattfinden wird. Mit ihrem Auftritt will sie junge Menschen inspirieren, die mit dem Ärzteberuf liebäugeln.

Für watson erzählt die Chirurgin, warum die Medizin ihr Traum war, wie sie ihren Weg erfolgreich gemeistert hat und warum Geld dabei gar keine so große Rolle spielte.

"Ich bin in Neuss am Rhein aufgewachsen, als Gastarbeiterkind. Meine Eltern haben sehr hart gearbeitet und ich glaube bis heute, dass das einer der Gründe für meinen Erfolg ist. Kinder, die aus Arbeiterfamilien kommen, haben oft ein unbedingtes Bedürfnis, es weit nach oben zu schaffen, ihre Eltern stolz zu machen, das beobachte ich immer wieder. Das gilt nicht nur für Gastarbeiterkinder, nicht nur für Dilek, sondern auch für Britta und Hannelore.

Schon als kleines Mädchen habe ich allen erzählt, die mich gefragt haben, was ich werden will: Ärztin. Ich verband damit eine gut bezahlte Arbeit, die Menschen hilft. Damit wollte ich meinen Eltern etwas zurückgeben.

In meiner Kindheit musste meine Mutter oft ins Krankenhaus und ich war sehr beeindruckt von den Ärzten in weißen Kitteln, die sie behandelt haben. Der Chefarzt hat ihr einmal bei der Untersuchung liebevoll übers Gesicht gestreichelt, etwas, wofür heute oft wenig Zeit ist, aber das war ein kurzer Moment, der bei mir damals sehr hängenblieb.

"Du als Mädchen musst etwas lernen, damit du unabhängig bist."

Ich hatte dieses Ziel immer im Kopf und es trieb mich voran. Erst kam die Schule, dann das Abitur, ich bekam den Studienplatz und mit jedem Schritt, der mich dem Ziel näher brachte, dachte ich: Genauso! Das fühlt sich richtig an.

Gezweifelt habe ich nie. Ich hatte zwar Verwandte, die Bedenken äußerten, so nach dem Motto: "Muss das sein? Da hat man doch im Studium jahrelang kein Einkommen!" Aber mir waren solche Bemerkungen egal und meiner Mutter auch. Im Gegenteil, sie hat immer gesagt: "Deine Brüder als Jungs können immer noch im Notfall auf dem Bau arbeiten, aber du als Mädchen musst etwas lernen, damit du unabhängig bist."

In der Studienzeit lebte ich von einem kleinen Bafög, aber das war nicht schlimm. Luxus brauchte und kannte ich nicht. Wir hatten als Kinder eine Mark Taschengeld und kamen immer damit klar. Wir mussten Fahrrad fahren, weil Bustickets zu teuer waren. Und einige Klassenfahrten fielen für uns aus, weil die zu viel kosteten. Ich habe mich trotzdem immer geliebt und stark gefühlt.

Ein Bild aus Dilek's Kindheitstagen.

Es ist auch eine Charakterfrage, wie viel man sich zutraut. Ich hatte schon immer ein sonniges Gemüt und war überzeugt, dass ich das hinbekomme. Natürlich habe auch ich einige Klausuren im Studium nicht bestanden und Rückschläge eingesteckt, aber das änderte nichts daran, dass ich weitermachte. Ich sah es als meine Pflicht an, das Studium schnell über die Bühne zu bringen. Auf Partys sah man mich selten.

Viele denken, mich hätte es zur Herzchirurgie getrieben, weil mein Vater an einem Herzklappenfehler starb, als ich erst zehn Jahre alt war. Das wäre eine schöne Geschichte und wer weiß, ob es unterbewusst eine Rolle gespielt hat. Aber eigentlich war es ein Zufall, der mich in diese Fachrichtung gebracht hat. Ich hatte das Glück, im ersten Semester bei einer Herzoperation zuzugucken, zudem brauchte eine Kommilitonin Unterstützung für ihre Doktorarbeit und so rutschte ich im fünften Semester noch tiefer ins Thema, um festzustellen: Herzchirurgie fasziniert mich.

"Ich hatte meiner Mutter immer gesagt: 'Mama, wenn ich den Facharzt habe, kannst du aufhören zu arbeiten.'"

Ich weiß, dass dieses Metier nicht nur ein Zuckerschlecken ist und erinnere mich an dieses schreckliche Gefühl als Berufsanfänger noch sehr gut. Da ist man als Assistenzarzt plötzlich zum ersten Mal verantwortlich für das Wohlergehen eines schwer herzkranken Menschen und macht einen klitzekleinen Fehler bei der Operation. Der Patient fängt später an zu bluten und man ist entsetzt: "Was habe ich getan?! Habe ich diesem Menschen geschadet? Und ist das das Ende meiner Karriere?" Sowas lässt einen nicht schlafen.

Weil ich das noch gut erinnere, versuche ich immer jüngeren Kollegen klarzumachen, dass Fehler ganz normal sind. Die Chirurgie lernt man beim Operieren, nicht nur aus Büchern. Es ist umso wichtiger, gute Vorgesetzte zu haben, die einen da durchführen. Das hilft nicht nur den Ärzten, sondern ist auch besser für das Wohl der Patienten.

2012 durfte ich als erste Europäerin ein Kunstherz implantieren. Das war ein riesiger Schritt in meiner Karriere. Aber mein ganz persönliches Highlight war eigentlich der Moment, in dem ich meinen Facharzt gemacht habe. Ich hatte meiner Mutter immer gesagt: "Mama, wenn ich den Facharzt habe, kannst du aufhören zu arbeiten." Das war was Solides. Ich fühlte mich auch anders, jetzt war ich wer. Ich hatte ja ein Dokument, das mir das bestätigte.

Wenn ich heute mit jungen Menschen spreche, bin ich begeistert, wie offen die sind. Die Bevölkerung ist viel durchmischter als damals in den 80ern, wo ich als türkischstämmige, die Medizin studieren wollte, noch ein absoluter Exot war. Die jungen Männer finden es selbstverständlich, dass eine Frau Chefin ist. Und die jungen Frauen wiederum suchen ganz aktiv nach Mentoren und holen sich Rat.

Gleichzeitig gibt es immer noch Jugendliche, die sich die Medizinerlaufbahn nicht zutrauen, obwohl ihr Input so wichtig wäre. Zuletzt habe ich das gedacht, als ich als Botschafterin im Osten Deutschlands unterwegs war. Viele Zuhörer dort waren sehr schüchtern, dabei haben sie wieder ganz eigene Biografien, die so wertvoll sind und die sie einbringen könnten. Wenn Mediziner aus allen Ecken der Gesellschaft kämen, wäre das eine Bereicherung für die Patienten, davon bin ich überzeugt.

"Ja, klar sind die Zeiten gerade schwer. (...) Aber davon darf man sich doch nicht bremsen lassen!"

Man muss es aber wollen und dafür arbeiten. Ich sage immer: "Wenn du ganz nach oben möchtest, musst du viel leisten." Ich habe nichts in den Schoß gelegt bekommen. Ich habe hart dafür gearbeitet und schon meine Eltern haben hart dafür gearbeitet. Wir haben die Chancen, die dieses Land uns geboten hat, genutzt. Es reicht nicht, zu hoffen, dass Deutschland einem etwas schenkt.

Momentan umgibt uns viel Pessimismus und die Presse stellt die Weltlage sehr dramatisch dar. Was oft fehlt, ist die Inspiration. Klar sind die Zeiten gerade schwer, meine Mutter sagte letztens erst: "Selbst Aldi ist teurer geworden." Aber davon darf man sich doch nicht bremsen lassen! Wir haben unsere Möbel früher vom Sperrmüll geholt und durften jeden Tag nur einen Eimer Wasser nutzen. Ich erinnere mich aber nicht, dass mich das irgendwie auf meinem Weg behindert hätte oder ich je unglücklich war.

Geld ist unwichtiger als man denkt. Ich hatte ein Ziel, schon als ganz kleines Kind. Ich habe es verfolgt. Mal half mir das Glück, mal der Fleiß, mal der Zufall, aber jedem Menschen, der noch am Anfang dieses Weges steht, kann ich nur sagen: "Du willst es? Dann mach es. Ich würde es immer wieder tun."

Inspiration statt Karriereplan
Die beiden "teech" Start-up Gründer Joel und Emanuele Monaco denken Karrieremessen neu. Prominente Speaker wie Lena Gercke, Ralf Dümmel oder Sebastian Fitzek sollen Jugendlichen Mut machen, ihren eigenen Weg zu finden, ihre Interessen zu verfolgen und sich auszuprobieren. Auch Scheitern gehört zu einem erfolgreichen Lebensweg dazu! Die Inspiration Days finden online vom 28. bis 30. September statt, anmelden kannst du dich hier. Die Firma Ströer, zu der auch watson gehört, ist Partner der Veranstaltung.
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