Schulabschluss! Das bedeutet mehr als ein Ballkleid und eine Mottowoche. Es ist auch der Start in eine Welt voller Optionen: Was will ich mit meinem Leben anfangen? Welchen Beruf ausüben? Nicht immer haben Schüler:innen eine klare Idee von ihrem "Erwachsenen"-Ich. Im besten Fall macht diese Unsicherheit experimentierfreudig, im schlechtesten verzagt.
Viola Patricia Herrmann kennt die Sorgen der Jugendlichen aus nächster Nähe. Sie ist nicht nur Lehrerin, sondern auch Mutter von vier Kindern, die die Grundschule, die Mittel- und Oberstufe besuchen.
Auf ihrem Blog und im Podcast spricht die Berlinerin über Bildungs- und Erziehungsthemen, gibt Praxistipps und übt Kritik, zum Beispiel an der schleppenden Digitalisierung. Beim Berufsorientierungsevent "teech inspiration days" ist sie als Speaker dabei.
Watson sprach mit ihr über realitätsferne Lehrpläne und die Macht einer Generation, die ihre Stärke oft unterschätzt.
watson: Ihre älteste Tochter ist in der 12. Klasse. Wie geht es ihr so kurz vor dem "Erwachsenenleben"?
Viola Patricia Herrmann: Im Moment hat sie immer ihre Klausuren und das Abitur im Kopf und ist sehr fokussiert. Dazu kommt der stetige Gedanke an das Leben danach, nach dem Motto: "Ich muss einen Job finden. Ich muss mich in dieser stetig verändernden Welt orientieren." Das ist ganz schön viel Druck. Als Mutter und auch als Lehrerin habe ich das Gefühl, dass die letzten Schuljahre einfach zu kurz sind, um den Jugendlichen eine Idee davon zu geben, wo sie später hinmöchten.
Wie findet man das heraus?
Man muss sich ausprobieren, den Lebenshorizont erweitern, in Berufsfelder und Lebenswelten hineinschnuppern, um herauszufinden, was einem Spaß macht und zu einem passt. Das war in der Corona-Pandemie noch schwerer als zuvor. Viele Schüler stehen kurz vor ihrem Abschluss und sind völlig ratlos, was sie machen sollen. Umso wichtiger ist es, diesen Jugendlichen Impulse zu geben und sie zu inspirieren.
Oft zeichnet sich doch schon in der Kindheit ab, was einem Spaß machen könnte.
Das familiäre Umfeld und auch die Freunde haben aber oft einen selektiven Input. Wir sind zum Beispiel eine sehr sportliche Familie, haben aber mit Musik nichts am Hut. Meine Kinder könnten musikalisch noch so talentiert sein, uns würde das niemals auffallen, weil wir da keinen Fokus drauf legen. Deshalb ist es so wichtig, wenn Jugendliche die Gelegenheit bekommen, in alle Richtungen zu schauen. Dazu gehört auch, sich in einem Praktikum oder Ferienjob auszuprobieren, nur um festzustellen: "Nee, das war wirklich nicht meins." Auch das ist eine wichtige Erkenntnis und diese Zeit sollte da sein.
Und diese Zeit haben Jugendliche nicht?
Durch die verkürzte Gymnasialzeit fehlt den Kindern ganz spürbar ein Jahr zur Orientierung. Der Schulstoff wurde bei der Umstellung nicht verschlankt, sondern einfach in die letzten zwei Jahre gepresst. Allgemeinbildung ist wichtig, keine Frage, aber was ich auch im Umfeld meiner Tochter erlebe ist, dass sich die Jugendlichen mehr Unterstützung in praktischen Lebensfragen wünschen.
Welche ganz praktischen Fragen meinen Sie?
Wie mache ich eine Steuererklärung? Welche Versicherungen brauche ich? Was muss in einem Mietvertrag stehen und wie führe ich einen Haushalt? Die Schule wäre ein Ort, wo man diese Themen – die ja jeden betreffen – im Unterricht aufgreifen könnte, leider passiert das nicht. Der Schulbetrieb ist diesbezüglich nicht sehr nachhaltig und fühlt sich komplett realitätsfremd an. Gelernt wird für die Punkte im Abitur, für das nächste Zeugnis. Ich bin überzeugt, dass das besser geht.
Nicht nur die Steuer erscheint wie eine unlösbare Aufgabe. Wie bewahrt man sich angesichts von Krieg, Klimakrise und Inflation die Freude an der Zukunft?
Es wird immer solche Themen geben. Ich bin zum Beispiel mit Tschernobyl und dem Ozonloch aufgewachsen, auch das waren große Ängste jener Zeit. Aber ich bin von tiefstem Herzen überzeugt, dass diese Welt gut ist. Und ich will meinen Schülern vermitteln, dass sie ihren Anteil daran haben, dass es positiv weitergeht. Jeder von uns trägt Verantwortung und kann auch mit seiner Berufswahl dem nachgehen, was er für richtig hält. Ich sage immer: "Ihr seid die Zukunft. Macht was draus!" Im Leben sollte man sich nicht von Ängsten klein machen lassen. Die meisten Limits bestehen nur im Kopf.
Aber manche Aufgabe scheint so unheimlich groß, wenn man gerade erst am Anfang steht...
Es reichen aber erste Schritte. Junge Menschen können zwar nicht sofort die Welt verändern, aber sich und ihren Wirkungskreis durchaus. Wir müssen schon unseren Kindern ein positives Grundverständnis von der Welt vermitteln und sagen: "Ihr seid dafür da, sie besser zu machen – und das könnt ihr auch. Euer Input zählt."
Einige junge Menschen haben aber nicht das Gefühl, dass ihr Input gehört wird, besonders nicht von der Politik.
Ich kann dieses Gefühl verstehen, aber das eigene Mitspracherecht aus Resignation freiwillig aufzugeben, wäre fatal. Wir leben in einer Demokratie und das ist eine große Sache – das zu vermitteln, halte ich für eine Grundaufgabe der Schule. Im besten Fall erziehen wir kompetente und gebildete Demokraten von Morgen, die mit Kopf und Herz entscheiden, was für ihre Gesellschaft das Beste ist. Jeder Bürger ist ein Stück weit in der Pflicht, sich für sein Land zu interessieren. Wer Veränderung möchte, muss seine Wählerstimme abgeben! Kindern ein demokratisches Grundverständnis mitzugeben heißt auch, ihnen zu zeigen, dass sie Veränderungen bewirken können.
Und wenn das Herzensthema in der Politik keinen Platz findet?
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, sich über die sozialen Medien Gehör zu verschaffen. Das hat es bei mir damals nicht gegeben, das ist ein großes Instrument der jüngeren Generation. Wenn ich merke, dass einem Schüler ein Thema am Herzen liegt, sage ich schon mal: "Dann werde laut für dein Anliegen. Du hast die Möglichkeit, über mehrere Kanäle, Menschen um dich zu versammeln, die ein ähnliches Ziel haben und aufzuklären, aktiv zu werden." Ob das nun der Klimawandel ist oder Bodyshaming – wer eine Vision hat, sollte das verfolgen. Das Schlimmste ist es, nichts zu tun und unzufrieden zu verharren.
Wie gibt man diese Zuversicht den Jugendlichen weiter?
Indem wir Kindern aufzeigen, wo ihre Stärken liegen und sie daran erinnern, was sie bereits geschafft haben, ihnen mehr zutrauen und sie ernst nehmen. Um ehrlich zu sein ist das ein bisschen eine Berufskrankheit bei Lehrern, immer auf die Schwächen eines Schülers zu schauen, wo man was verbessern könnte, das liegt in der Natur des Jobs. Da erwische ich mich auch selbst bei, aber ich verspreche, ich arbeite daran.