"Chillen ohne Reue", "relaxen" oder "therapeutisches Gammeln" – all diese Worte und Redewendungen klingen so, als kämen sie geradewegs aus dem Mund lustloser Teenager.
Nur für zwei dieser Begriffe stimmt das jedoch. Hinter dem letzten verbirgt sich in Wahrheit das sorgfältig entwickelte Therapiekonzept eines Sozialwissenschaftlers. Nichtstun, das sich auch noch positiv auf Patient:innen auswirkt? Genau das soll funktionieren.
Ein Altenheim in Nordrhein-Westfalen hat das Konzept getestet – und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.
Stephan Kostrzewa ist examinierter Altenpfleger, Sozialwissenschaftler und der Entwickler von "Therapeutischem Gammeln". Dabei handelt es sich um ein Konzept für Menschen mit fortgeschrittener Demenz.
In einem gleichnamigen Fachbuch setzt sich Kostrzewa kritisch mit der üblichen Betreuungspraxis von Menschen mit fortgeschrittener Demenz in der stationären Altenarbeit auseinander. Für gewöhnlich bedeutet das nämlich: Struktur, Regeln und feste Uhrzeiten. Sowohl fürs Zähne putzen als auch fürs Waschen und Essen.
Kostrzewa hält davon nichts. Er ist der Meinung: Man sollte Menschen mit Demenz auch einfach mal in Ruhe lassen. Und sie das machen lassen, worauf sie Lust haben – egal zu welcher Uhrzeit.
Wie die WAZ berichtet, hat ein Altenheim das "Therapeutische Gammeln" bereits eingeführt. Im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl (Nordrhein-Westfalen) gibt es seit rund einem Jahr eine "Gammel-Oase" für an Demenz erkrankte Bewohner:innen.
Dafür wurden sieben Doppelzimmer und zwei große Gemeinschaftsräume umgedacht und neu eingerichtet. Insgesamt 15 neue Mitarbeitende stellte das Altenheim ein und schulte die bisherigen um, wie Leiter Christian Löbel gegenüber der "WAZ" berichtet.
In der "Gammel-Oase" herrscht mittlerweile eine ganz eigene Hausordnung. Während auf anderen Stationen um halb sieben morgens der Alltag beginne und die Bewohner:innen gewaschen und angezogen würden, schlafen in der "Oase" die meisten noch. Wann ihr Tag beginnt oder endet, ist ihnen selbst überlassen. Feste Uhrzeiten setzt ihnen niemand mehr.
Bis in die Nacht ist eine Pflegekraft vor Ort, um späte Abendmahlzeiten zuzubereiten. Auch Bier dürfen die Demenzerkrankten trinken. Wer Besuch haben will, darf diesen rund um die Uhr begrüßen.
Kostrzewa sagt über seine Pflege-Ausbildung: "Mir gefiel nicht, wie man in den Heimen mit den Menschen umging, wie man sie gängelte, ihre Tage durchstrukturierte, sie mit Firlefanz zu beschäftigen versuchte". Ihm sei es wichtig, demenziell veränderte Menschen "wie vollwertige Menschen" zu behandeln. So habe er es in der Palliativmedizin erlebt.
Obwohl sowohl Angehörige als auch Pflegekräfte zunächst skeptisch wahren, hat sich das Konzept in Marl als erfolgreich herausgestellt: Die meisten Bewohner:innen kämen mittlerweile mit weniger oder komplett ohne Tabletten aus.
Psychopharmaka gehören sonst in Einrichtungen oft dazu und dienen der Ruhigstellung. Eine Frau habe in der Gammel-Oase so große Fortschritte gemacht, dass sie heute wieder alleine leben könne, mit Betreuung.