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Anti-Girlboss Nadia Shehadeh über eine Revolution der faulen Frauen

Portrait of handsome woman eating pizza at home and taking photo of her food to share memory
Selbstoptimierung adé: Auf dem Handy zocken und Pizza bestellen ist manchmal völlig ausreichend. Bild: iStockphoto / littlehenrabi
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Die Anti-Girlboss-Strategie: Warum man Kapitalismus am besten mit Faulheit bekämpft

20.03.2023, 08:26
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Du kannst heutzutage alles haben: Kinder, eine Top-Karriere, einen straffen Körper, aufregende Hobbys – du musst nur Gas geben, sei ein Girlboss. So schallt es Frauen auf Insta, in TV-Shows und sogar im echten Arbeitsleben entgegen. Ein toxischer Mythos, der von Einzelnen alles verlangt, anstatt die Fairness des Systems zu hinterfragen.

Dieses Mantra nervte Nadia Shehadeh aus Bielefeld so sehr, dass sie ein Manifest für die faule Frau geschrieben hat (Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen, Ullstein Verlag, 17,99 Euro). Sie ruft dazu auf, der Leistungsgesellschaft den Stinkefinger zu zeigen. Ein Gespräch.

Nadia Shehadeh
Nadia Shehadeh schreibt darüber, warum es sich nicht lohnt, ein "Anti-Girlboss" zu sein.Bild: Studio Populaire / Makbule Keles

Watson: Dein Buch heißt "Anti-Girlboss". Warum?

Nadia Shehadeh: Dieses "Girlboss"-Mindset ist einfach ein Mythos. Die These, dass nicht auf das System geschaut werden muss, sondern auf den individuellen Leistungswillen, hat mich nie überzeugt. Und auch die Empirie spricht dagegen. Es stimmt einfach nicht, dass Ungleichheiten überwunden werden, indem mehr gearbeitet wird.

"Das ist, als ob jemand mit Gewichten an den Beinen ins Rennen startet. Natürlich ist das ein komplett unfairer Wettbewerb."

"Du kannst es schaffen, wenn du nur willst" heißt also auch: "Wer es nicht schafft, ist selber schuld"?

Genau. So werden Entsolidarisierungs-Tendenzen befeuert. Diese wenigen Erfolgsgeschichten zu propagieren, macht es den Gewinnern des Systems sehr leicht zu sagen: "Schau doch! Diese eine CEO ist auch eine Frau und sie hat sogar Kinder. Das System funktioniert." Quatsch. Unser System funktioniert vor allem für Privilegierte: Klar, da können auch reiche, weiße Frauen dabei sein. Andere aber müssen Zusatzbürden stemmen. Und das betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und andere, die Ausschlusserfahrungen machen. Das ist, als ob jemand mit Gewichten an den Beinen ins Rennen startet. Natürlich ist das ein komplett unfairer Wettbewerb.

Du bist kein Girlboss?

Ich bin auf gar keinen Fall irgendeine Art von Boss oder Girlboss, sondern einfach ein Normalo. Ich bin eine ganz durchschnittliche Frau. Und ich bin das gerne.

Du willst dich nicht mehr verbessern?

Für mich reicht vollkommen, dass ich mich wohlfühle. Das ist eine sehr privilegierte Position. Trotzdem ist es fast schon ein Affront, zu sagen: "Ich finde mein Leben so, wie es ist, okay. Ich bin eine Girl-Angestellte. Fertig." Ich finde krass, wie sehr man sich dafür rechtfertigen muss. Dabei ist das doch die Lebensrealität der meisten: Man geht arbeiten, und man freut sich, wenn man Feierabend hat und faul sein kann.

"In Filmen sitzen Frauen mit drei Liter Eis nur auf der Couch, wenn sie von einem Mann verlassen wurden."

Warst du am Wochenende so richtig faul?

Ich war am Sonntagabend sogar so faul, dass ich es nicht mal geschafft habe, meine Serie weiter zu gucken. Ich habe auf der Couch mehrere Stunden mit Handyspiel und Netflix-Vorschauen zugebracht und bin dann ins Bett gefallen.

Handyspiele und Netflix – das ist die Art Zeitvertreib, mit der man nicht angibt.

Fast alle machen es doch so. Zuzugeben, dass man in seiner Freizeit gern Dinge macht, die komplett unnütz sind, ist fast schon ein Tabu. So weit sind wir mit unserem Leistungszwang, der bis in den privatesten Alltag eingreift. Klar fühlt es sich besser an, wenn man samstagmorgens schon beim Sport war und dann gesund gekocht hat. Aber ich glaube, ich bin nicht alleine, wenn ich sage: Oft habe ich vor allem Bock, stumpf Tiktok-Videos zu gucken.

Anti Girlboss Nadia Shehadeh
Bild: Ullstein Verlag

Warum haben wir so ein schlechtes Gewissen, wenn wir das laut aussprechen?

Das hat mit neoliberalen Leistungsmythen zu tun, und an weiblich gelesene Menschen werden zudem gewisse Anforderungen gestellt. Frauen müssen immer liefern, verantwortungsvoll gegenüber Kindern sein oder zumindest sexy für den Typen. Das ist ein sehr heterosexistisches Ideal. Frauen, die sich hinstellen und sagen: "Ich habe gerade null Bock, was zu leisten. Ich will nur in meinem Pyjama drei Tage vor der Playstation sitzen und Pizza bestellen" – das sind eigentlich die, die richtig widerständig sind. Aber Frauen dürfen auf diese Art und Weise nicht existieren, deswegen wird deren Faulheit oft pathologisiert. In Filmen sitzen Frauen mit drei Liter Eis nur auf der Couch, wenn sie von einem Mann verlassen wurden.

Brauchen wir mehr faule weibliche Vorbilder?

Wir feiern faule Frauen jedenfalls zu wenig. In der Popkultur gibt es diese Helden, wie den Dude von "Big Lebowski". Aber wo sind die coolen Girlloser?

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Faulheit muss man sich leisten können.

Ja. Tatsächlich gibt es Schlupflöcher in diesem System – aber nur für die, die es sich leisten können. Es gibt so viele Ambivalenzen bei dem Thema, und ich habe, als ich mein Buch geschrieben habe, gemerkt: Ich kann gar keine Ratgeberfibel liefern, die erklärt, wie man das Beste aus einem schlechten System für sich herausholt. Miete und Essen braucht man eben, und dafür muss man einen Deal mit dem System eingehen – zu ganz unterschiedlichem Salär.

"Deswegen ist es auch tabuisiert, wenn Menschen sagen: Am liebsten würde ich möglichst wenig arbeiten und möglichst viel freihaben."

Du sagst, man müsse den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen. Wie meinst du das?

Jede Sekunde, die ich – ohne zu arbeiten – auf dem Sofa verbringe, ist eine Sekunde, in der der Kapitalismus meine Ressourcen nicht anzapfen kann. Wenn man das erkennt, ist es komplett widerständig, zu sagen: "Heute nicht mit mir! Heute gibt es ein Extra-Schläfchen!" Und zusätzlich ist es natürlich auch mein Versuch, zu sagen: Arbeit ist nur Arbeit, aber lohnarbeitsfreie Zeit gehört uns. Die Idee, dass Arbeit Berufung und Erfüllung ist, ist ja noch relativ jung – und Bestandteil des Mythos, dass jede:r es mit genug Leistung schaffen kann. Deswegen ist es tabuisiert, wenn Menschen sagen: Am liebsten würde ich möglichst wenig arbeiten und viel freihaben.

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Das hört wohl kein Chef beim Bewerbungsgespräch gerne.

Wir haben gerade Debatten, die genau das aufgreifen. Weil Arbeitnehmende heute eher Grenzen setzen und sagen können, unter welchen Bedingungen sie arbeiten müssen. Das ist ja keine Blasphemie oder Unverschämtheit, sondern ganz normale Ratio. Jetzt schaut man, ob und wie der Markt auf diese zutiefst menschlichen Wünsche reagieren wird. Denn was keine Firma vergessen sollte: Sie kauft die Lebenszeit ihrer Mitarbeiter.

Ein Girlboss würde jetzt sagen, wenn der Job Spaß macht, fühlt es sich nicht nach Arbeit an.

Kann sein, dass ein, zwei Girlbosse sich ihren Traum vom schicken Büro erfüllen und jeden Tag Spaß haben. Aber wer putzt ihre Büroräume? Wer liefert ihnen das Essen? Wer füllt die Regale im Supermarkt, in denen sie einkaufen? Es sind die vielen Menschen, die ganz normalen Jobs nachgehen, die das Rückgrat des Arbeitsmarkts bilden. Es wäre ein Riesenschritt, wenn die Masse erkennt: Wir sind alle austauschbar in unseren Jobs. Und wir dürfen gehen, wenn anderswo die Konditionen besser sind. Das ist doch gesunder Menschenverstand.

"In einer Leistungsgesellschaft ist Ausruhen ein Akt des Widerstands."

...oder egoistisch.

Andrea Nahles hat ja so schön gesagt: "Arbeit ist kein Ponyhof", weil junge Leute sich 'unverschämterweise' aussuchen wollen, unter welchen Konditionen sie arbeiten und damit den Fachkräftemangel befeuerten. Aber ich selbst glaube nicht, dass unsere Arbeitsministerin selbst Brötchen beim Bäcker verkaufen würde, solange sie andere Optionen hätte.

Was ist also dein Rat?

Sich den Widrigkeiten des Systems bewusst sein, systematisch solidarisch sein. Vielleicht einer Gewerkschaft beitreten? Sich außerdem vom Leistungszwang freimachen und die eigene Freizeit guten Gewissens mit Nickerchen und Faulenzen zu füllen, wenn man es kann und will. In einer Leistungsgesellschaft ist Ausruhen ein Akt des Widerstands. Also: Ab auf die Couch.

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