Die Corona-Pandemie hat nicht nur Menschenleben gekostet, sondern auch die Gesellschaft massiv gespalten. Einige erkennen ihre altbekannten Freunde und Familienangehörigen fast nicht wieder, sobald das Gespräch auf Impfungen oder Maskentragen kommt. Groß, sehr groß, sind die ideologischen Gräben, die einige Menschen in Deutschland inzwischen voneinander trennen. Wie konnte das passieren und warum wird dieser Glaubenskrieg so erbittert geführt?
Pia Lamberty ist Psychologin und hat zusammen mit Katharina Nocun die Bücher "True Facts", "Fake Facts" und "Gefährlicher Glaube" verfasst. Seit 2016 erforscht sie, wie Menschen durch Verschwörungstheorien radikalisiert werden. Für watson sprachen wir mit der 37-Jährigen über unauffällige Bürger, die plötzlich radikale Ansichten entwickeln und warum eine Impfpflicht einigen Gegnern heimlich gelegen käme.
watson: Sie beschäftigen sich mit Verschwörungstheoretikern. In sozialen Medien löst alleine diese Bezeichnung oft wütende Reaktionen aus. Warum?
Pia Lamberty: Wichtig ist, den Begriff nur zu benutzen, wenn er auch passt. In der Pandemie wurden Falschinformationen und Verschwörungserzählungen oft in einen Topf geworfen. Wenn jemand sagt: "Die Impfung macht unfruchtbar", dann ist das keine Verschwörungserzählung, sondern einfach falsch. Es ist wissenschaftlich widerlegt. Wenn er jetzt aber noch hinzufügt: "Und die Oben verheimlichen das, weil sie die Weltbevölkerung reduzieren wollen", dann haben wir es mit einer Verschwörungserzählung zu tun.
Das Ergebnis bleibt dasselbe. Warum ist es dennoch wichtig, zu unterscheiden?
Weil man an diese Menschen ganz unterschiedlich herantreten muss. Wenn jemand etwas Falsches glaubt, dann kann das im besten Fall aufgeklärt werden. Der Frauenarzt kann nochmal im Detail erklären, wie eine Impfung im Körper funktioniert und warum sie dem Kinderwunsch nicht im Weg steht. Wenn jemand aber immer mehr in die Verschwörungserzählung abdriftet, wird es schwieriger, ihn noch zu erreichen. Denn jegliche Aufklärung wird dann nur noch als Teil der Verschwörung verstanden.
Es gibt aber eine breite Masse, die sich nicht für Verschwörungstheoretiker halten, sondern mit einem schlechten Bauchgefühl argumentieren.
Was Menschen von sich glauben und welche Positionen sie tatsächlich vertreten, stimmen nicht immer miteinander überein. Sonst bräuchte es ja keine Psychologen mehr und man könnte Patienten beispielsweise einfach fragen: "Hegen Sie eigentlich einen heimlichen Groll gegen Frauen?" So funktioniert das leider nicht. Gerade in der Aufklärung muss die erste Frage lauten: Wie ideologisch ist mein Gegenüber eigentlich? Jemand, der irgendwo Unsinn aufgeschnappt hat, ist erreichbar. Wer aber bereits in einem geschlossenen Weltbild lebt, dem braucht man mit Argumenten nicht mehr zu kommen.
Klinikpersonal berichtet, dass einige Patienten Corona auch noch anzweifeln, wenn sie an der Beatmungsmaschine landen. Wie tief sitzt dieser Glaube?
Genau solche Fälle habe auch ich schon mitbekommen. Es ist erschreckend, dass sich eine so tief sitzende Ideologie nicht einmal auflöst, wenn man Angehörige sterben sieht oder selbst auf der Intensivstation lag. Es zeigt aber, wie unheimlich schwierig es ist, jemanden mit einem geschlossenen Weltbild zu erreichen. Schon vor der Pandemie gab es Menschen, die so sehr an Verschwörungen geglaubt haben, dass sie Medikamente verweigert haben und dadurch umkamen. Auch im Bereich Esoterik sieht man das immer wieder: Da steht der Glaube über allem und es wird eher der eigene Tod, manchmal auch der Tod von Angehörigen in Kauf genommen, als nur einen Millimeter davon abzurücken. Ich finde das extrem tragisch, denn das sind Menschen, deren Sterben man hätte verhindern können.
Warum ist es der Politik nicht gelungen, diese Menschen rechtzeitig abzuholen?
Es fängt damit an, dass die Gruppe der Impfgegner anfangs als Problem unterschätzt wurden. In der Szene gab es aber ein paar Stichwortgeber, die großen Einfluss hatten auf alle, die noch unsicher waren und zu erreichen gewesen wären. Die Verbreitung muss man mitdenken: Einige Nachrichten wurden alleine auf Telegram eine halbe Million mal geteilt. Und man kann davon ausgehen, dass sie es noch in tausende WhatsApp-Gruppen geschafft haben. Diese Nachrichten haben die Menschen zum Teil schneller erreicht als die Politik. Das war der erste Fehler.
Und der zweite Fehler?
Man hat in der Impfkampagne vor allem auf Informationen gesetzt und nicht mal versucht, auch emotionale Kommunikationswege zu nutzen. Dabei wissen wir aus Studien, dass Menschen sehr unterschiedliche Arten haben, ihr Weltbild zu formen. Es gibt analytische Leute, die sammeln ganz viele Fakten und bauen sich damit ein Weltbild zusammen. Und es gibt Menschen, die eher holistisch auf die Welt blicken, für die spielt das Bauchgefühl eine viel größere Rolle. Das ist als Herangehensweise weder besser noch schlechter, aber eben anders – und diese Leute, die emotional entscheiden, die wurden von der Impfkampagne nicht abgeholt.
Wie hätte eine holistischere Impfkampagne ausgesehen?
Eine holistische Kommunikation setzt beispielsweise nicht nur auf Fakten, sondern auch Erfahrungsberichte und zeigt auf, welche Rolle Impfungen für die Gemeinschaft spielen. Daneben gibt es viele Menschen, die schlichtweg eine Spritzenphobie haben. Die hätte man sensibler begleiten müssen. Ein großer Punkt ist auch die Beratung von jungen Frauen. Speziell sie hätten intensive Aufmerksamkeit gebraucht, um Ängste vor Unfruchtbarkeit zu nehmen. Deutschland hätte viele dieser Sorgen auffangen können, im Ausland ist das zum Teil stärker gemacht worden.
Inzwischen haben viele das Vertrauen in die Politik jedoch verloren.
Es war meines Erachtens ein Fehler der Politiker, weitere Lockdowns und eine Impfpflicht kategorisch auszuschließen. Auch die Regierung kann ja nicht in die Zukunft blicken. Solche Maßnahmen als notwendiges Instrument kategorisch auszuschließen und das eigene Versprechen dann brechen zu müssen ist sehr unklug, weil es Misstrauen schafft.
Für die Menschen, über die wir sprechen, wäre eine Impfpflicht nur der Beweis, dass die Politik lügt, oder?
Es ist Öl in ein Feuer, das schon lichterloh brennt. Allerdings glaubten die Leute auch schon vorher, dass Politiker lügen. Wenn man in die entsprechenden Kanäle schaut, wird sich unter den Hardlinern zur Not auch eine Lüge ausgedacht oder ein Satz umgedeutet. Aber für diejenigen, die noch unentschlossen waren, wem sie glauben, kann das ein Vertrauensbruch sein, der Zweifel an der Regierung bestätigt.
Sie sprechen sich dennoch für eine Impfpflicht aus. Warum?
Eine Impfpflicht kann unterschiedliche Dinge auslösen. Eine nennt sich in der Psychologie Reaktanz und lässt sich salopp mit Bockigkeit übersetzen. Diese Menschen werden erst recht wütend. Aber für andere kann es auch eine stillschweigende Erleichterung bedeuten. Jemand, der seit anderthalb Jahren über Impfungen wettert, aber langsam selber merkt, dass er sich verrannt hat, kann das nur schlecht zugeben. Jeder kennt dieses Gefühl nach einem Streit wohl von sich selbst. Man will einfach nicht sein Gesicht verlieren und zugeben, dass man falsch lag. Wird die Impfpflicht offiziell gefordert, dann kann man diese Entscheidung auslagern. Nach dem Motto: "Der Staat zwingt mich ja. Ich mache das jetzt nur deswegen."
Inzwischen werden allerdings auch Hoodies verkauft, mit denen man seinen Nicht-Geimpft-Status nach Außen zeigen kann. Schwingt da bei manchen Verweigerern ein gewisser Stolz mit?
Studien zeigen, dass Menschen auch deshalb an Verschwörungen glauben, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, sich über ihre Mitmenschen zu erheben, es gibt das Phänomen eines kollektiven Narzissmus. Man glaubt, die eigene Gruppe würde über den Anderen stehen und das geht auch mit einer Abwertung und Feindseligkeit gegenüber den "Schafen" einher, die der Masse folgen und nicht selbst denken würden. Und das ist gerade jetzt, in Zeiten großer Unsicherheit, eine relativ einfache Möglichkeit der Selbstüberhöhung. Man fühlt sich plötzlich als Held der eigenen Abenteuergeschichte, als Widerstandskämpfer. Man ist ja schon "im Widerstand", wenn man keine Gesichtsmaske trägt.
Testzentren sind angezündet worden, ein Kassierer wurde sogar erschossen. Wie ist das möglich, dass bislang unauffällige Menschen so etwas Radikales tun?
Die Welt der Verschwörung geht mit einer stärkeren Gewaltbereitschaft einher. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Gewalt ausüben würde, der an Verschwörungen glaubt, aber es ist ein größeres Potenzial vorhanden. Es ist ja kein Zufall, dass terroristische Gruppen verschwörerische Erzählungen für sich nutzen, um ihre Anhänger politisch zu mobilisieren. Dabei wird eine Welt erschaffen, die sehr klar in Gut und Böse unterteilt wird. Dann wird nicht mehr über das Missmanagement der Regierung geredet, sondern über eine Bundeskanzlerin, die bereit ist, Menschen zu vergiften, indem sie es aus Flugzeugen versprühen lässt. Das absolut Böse.
Und dagegen müsste man natürlich einschreiten.
Genau. Man kämpft für die Wahrheit, für das Gute – und immunisiert sich so auch gegen jegliche Kritik. Wer meint, dass er auf der richtigen Seite steht, im Wohl der Menschheit oder zumindest der Mehrheit zu agieren, rechtfertigt damit auch Gewalt. Bei der Stürmung des Kapitols in den USA hat man das gesehen: Als die Trump-Unterstützer verhaftet wurden, waren sie vollkommen verwundert, dass die Polizei sie wie Kriminelle behandelt. Weil sie dachten, sie seien doch Helden und kämpfen für das Gute, nämlich für den rechtmäßigen Präsidenten.
Von außen betrachtet denkt man nur: Wie verrückt, dass ganz normale Bürger so ausflippen können.
Das ist ja auch das, was Kassierer von Supermärkten oder Busfahrer berichten. Sie erleben permanent Aggressionen und werden attackiert, weil sie die Maskenpflicht durchsetzen müssen, die für gewisse Menschen extreme Symbolkraft hat. Die Maske ist ja an sich ein neutrales Stück Stoff, das man aufsetzt, um keine Krankheiten zu übertragen. Aber sie wurde zum politischen Symbol erklärt, zum ideologisch aufgeladenen Gegenstand, das der Feind einem aufdrängen will.
Erleben Sie denn selbst auch Belästigung durch Verschwörungstheoretiker?
Ich habe auch schon vor der Pandemie E-Mails mit Beleidigungen und Drohungen bekommen. Aber seitdem mein Buch erschienen ist, erreichen mich noch viel mehr Beleidigungen, bis hin zu Morddrohungen. Der Ton wird schärfer, mit Sätzen wie: "Ihr werdet alle zur Rechenschaft gezogen" und "Du wirst noch vors Kriegsgericht gezerrt". Bislang sind das nur Worte, aber ich musste mein Leben tatsächlich etwas umstellen. Öffentlich würde ich nicht mehr ohne Sicherheitsmaßnahmen sprechen.
Ein Gedankenspiel: Die Pandemie ist beendet, die weltweite Corona-Inzidenz liegt bei Null. Verschwindet dann auch die dazugehörige Verschwörungsszene?
Nein. Wenn man sich Studien von vor der Pandemie anschaut, dann gab es immer eine große Anzahl an Menschen in Deutschland, die eine Affinität zum Verschwörungsglauben hatten. Die waren schon immer da. Deswegen halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass sie sich in Luft auflösen. Was passieren wird ist, dass diese Netzwerke ruhiger werden, dass Leute die Telegram-Gruppen verlassen oder sich nicht mehr so stark damit auseinandersetzen. Aber sobald es wieder zu einer gesellschaftlichen Krise kommt oder einer Katastrophe, sind das Netzwerke, die reaktiviert werden können. Schon jetzt gibt es Stichwortgeber für die nächsten großen Themen.
Und welche sind das?
Migration und vor allem: der Klimawandel.