Warum haben wir mit uns nicht einfach mal Sex wie mit einem Menschen, den wir lieben? Bild: iStockphoto / golubovy
Interview
Jeder macht es, keiner spricht drüber: Selbstbefriedigung. Für viele ist es vor allem ein schneller Akt des Stressabbaus, dabei hat das "Liebe-Machen" mit sich selbst eigentlich das Potential für viel mehr als nur einen schnellen Höhepunkt, sagt Julia Henchen.
Sexpertin Julia HenchenBild: privat / Kim Hoss
Sie ist Sexualtherapeutin in Baden-Württemberg und hat dem Thema sogar ein ganzes Buch gewidmet. Für watson sprachen wir mit ihr über Menschen, die keine Ahnung haben, was sie im Bett wollen, den unterschätzten, feministischen Aspekt von Solosex und warum es befreiend sein kann, die sexuellen Bedürfnisse in die eigene Hand zu nehmen.
Sie sagt:
"Frauen wird nur ein ganz geringer Spielraum an Lust zugestanden. Deshalb hat es politische Sprengkraft, wenn Frauen sich ihrer sexuellen Bedürfnisse ermächtigen, es stört das patriarchale System."
watson: Du sprichst von Solosex. Warum nicht einfach Selbstbefriedigung?
Julia Henchen: Ich möchte mit dem Begriff deutlich machen, dass auch Selbstbefriedigung Sex ist. Wir tragen immer noch die Vorstellung mit uns herum, dass nur Penetration Sex ist und das seit tausenden von Jahren. Die Norm in vielen Köpfen ist: Es gibt ein "Vorspiel" – auch ein unheimlich abwertendes Wort – dann folgt die Penetration und mit dem Orgasmus des Mannes ist der Sex beendet. Dieses starre Konzept ist für viele aber gar nicht befriedigend, es lohnt sich, das zu hinterfragen.
Aber kann man darüber ein ganzes Buch schreiben?
Ich erlebe nun mal jeden Tag Menschen, die mit dem Thema Unlust oder Orgasmus-Schwierigkeiten zu mir kommen. Es ist die Basis, erst einmal herauszufinden: Was gefällt mir eigentlich beim Sex? Wo und wie werde ich gerne berührt? In der Therapie sind viele Leute richtig ratlos, wenn ich sie das frage. Sie überlassen ihre Befriedigung ihrem Partner.
Sollte der Partner einen nicht auch befriedigen?
Die Anspruchshaltung: "Du bist dafür verantwortlich, dass ich befriedigt bin" ist zu kurz gedacht. In der Paartherapie begegnet mir das häufig. Da kommen dann vor allem die Frauen zu mir – denn ja, auch beim Sex leisten Frauen die Care-Arbeit in der Beziehung – und wollen die Lust in ihre Partnerschaft zurückholen, indem sie an sich arbeiten. Es hilft, den Fokus umzulenken und sich klar zu machen, dass die eigene Sexualität erst einmal Priorität hat, die man glücklicherweise sogar selbst befriedigen kann. Sex ist schön und Solosex bietet die Möglichkeit, sich daran wieder zu erinnern.
Was berichten die Leute denn über Selbstbefriedigung?
Frauen sagen oft: "Beim Sex mit einem Partner habe ich nie einen Orgasmus, aber wenn ich mich selbst befriedige, schaffe ich es in unter zwei Minuten zum Höhepunkt". Bei Männern geht es ähnlich schnell. Selbstbefriedigung wird von vielen eher genutzt, um Anspannung loszuwerden, das geht dann ruckzuck.
"Sie haben mit sich selbst nicht auf die Art Sex, wie das jemand tun würde, der verliebt ist."
Liegt das daran, dass die Leute schon genau wissen, was sie zum Höhepunkt triggert? Das klingt ja sehr routiniert.
Das hat durchaus was mit Routine zu tun, was völlig okay ist. Routinierter Sex kann gut sein, auch ein Quickie kann gut sein. Aber wenn man eigentlich gar nicht so glücklich ist mit dem Sexleben, lohnt es sich, auch die Routinen beim Solosex zu verändern, um herauszufinden, was noch Spaß macht. Was ich super spannend finde ist, dass ganz viele Menschen beim Solosex eigentlich nur die Genitalien nutzen, aber nie den ganzen Körper. Sie haben mit sich selbst nicht auf die Art Sex, wie das jemand tun würde, der verliebt ist, der vielleicht auch mal den Rücken, Brüste und Po des Partners streichelt. Sich einfach mal zu liebkosen fällt oft hinten über.
Du sagst, Solosex sei politisch. Ganz besonders für Frauen. Wie meinst du das?
Ich erlebe, dass Sex oft als etwas sehr dominant-männliches betrachtet wird, wie in den Pornos. Das System ist nicht besonders auf Frauenlust ausgerichtet, das geht im Schulunterricht los, wo Mädchen und Jungen nicht erklärt wird, wie groß eine Klitoris ist oder wie sie aufgebaut ist. Wenn sich eine Frau ermächtigt, sich ihre Lust wiederzuholen, sich zu spüren und Solosex auszuleben, ist das ein hochpolitischer Akt, denn es bedeutet auch: "Ich kümmere mich jetzt um meine Bedürfnisse. Ich räume meiner Lust diesen Platz in meinem Leben ein. Und ich brauche dafür weder einen Mann, noch seinen Penis." Vielen Frauen fällt das immer noch schwer, viele schämen sich auch dafür, dass sie masturbieren.
Wer weibliche Lust verstehen will, sollte die Anatomie kennen. Henchen hier mit einem Vulva-Modell.
Stellen denn so viele Hetero-Frauen ihre Lust hinter die des Mannes?
Ich würde gerne "Nein" sagen, aber aus meiner Praxis muss ich auf jeden Fall sagen: Ja. Den meisten ist das nicht einmal bewusst, sie übernehmen eben, was die Gesellschaft ihnen suggeriert. Und da ist es immer noch so, dass eine Frau sich begeistert nach dem zu richten hat, was ihm gefällt. Eine Frau, die ohne Scham sagt, sie ist unabhängig, hat gerne und viel Sex, gilt als "Schlampe". Eine Frau, die ihre sexuellen Grenzen kennt und auch klar kommuniziert, ist hingegen "prüde", dabei ist das totaler Quatsch, denn gerade das zeigt sexuelles Selbstbewusstsein. Frauen wird nur ein ganz geringer Spielraum an Lust zugestanden. Deshalb hat es politische Sprengkraft, wenn Frauen sich ihrer sexuellen Bedürfnisse ermächtigen, es stört das patriarchale System.
"Eine Frau, die ohne Scham sagt, sie ist unabhängig, hat gerne Sex und viel Sex, gilt als 'Schlampe'. Eine Frau, die ihre sexuellen Grenzen kennt und auch klar kommuniziert ist hingegen 'prüde'."
Aber wie findet man denn raus, was einem sexuell gefällt? Man klickt sich ja wohl kaum durch Pornos, um zu schauen: Das schon. Das nicht...
Doch. Es kann zumindest Teil einer Therapie sein, dass man auf Feldforschung geht und sich auch durch Pornos inspirieren lässt. Einige mögen auch erotische Literatur oder Podcasts, anderen reicht ihre Fantasie. Nicht zuletzt gehört auch anatomisches Wissen zur sexuellen Selbsterkenntnis, zum Beispiel: Wie funktioniert ein Orgasmus überhaupt? Ebenso wichtig, wie Lustquellen herauszufinden, ist es aber auch zu erkennen, was man nicht mag – es ist nicht selten, dass Menschen jahrelang Sex nach einer Art haben, die ihnen gar nichts gibt.
Hast du ein Beispiel?
Im Porno sieht man ganz häufig, dass der Penis oder auch die Hand an die Vulva klatscht. Und das machen halt viele Menschen dann auch im partnerschaftlichen Sex. Ich hatte mal ein Paar vor mir sitzen, bei dem sich erst in der Therapie herausstellte, dass beide darauf gar nicht standen, trotzdem haben sie es immer gemacht, weil sie dachten: Macht man halt bei "wildem" Sex so. Dieser Akt des Klatschens war aber für beide jedes Mal so eine kurze, peinliche Situation, die sie aus dem Konzept gebracht hat. Als er hörte, dass sie das gar nicht mag, war er richtig erleichtert. Für beide war es ein Lustgewinn, das einfach zu lassen und auch zu begreifen: Fremde Konzepte von "sexy" müssen wir nicht ungefragt übernehmen.
"Man kann nicht 'gut' oder 'schlecht' beim Sex sein. Man kann sich nur gut oder schlecht beim Sex fühlen."
Das zeigt aber auch, dass Männer beim Sex genauso unter vorgefertigten Rollen leiden.
Ja, total. Zum Beispiel wird Männern Sinnlichkeit oft nicht zugestanden. Schon wenn wir das Wort hören, haben wir eigentlich immer eine Frau im Kopf. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Männer – genauso wie Frauen – davon profitieren, ihren Sex zu überdenken, aus diesem Macho-Korsett herauszutreten und sich auch mehr Zeit für sich selber zu lassen. Spannend finde ich zum Beispiel, dass Männer beim Solosex oft sehr starken Druck auf ihren Penis ausüben. Diesen Überreiz kann die Vagina, die ja weich und nachgiebig ist, gar nicht auslösen – das führt dann häufig zu Erektionsproblemen. Deswegen lohnt es sich auf jeden Fall auch für Männer zu sagen: "Okay, ich probiere das heute mal etwas anders."
Julia Henchens' Buch erschien im mvg Verlag (17 Euro).
Solosex kann also eine echte Bereicherung sein. Was würdest du den Leuten am liebsten noch mitgeben?
Hört auf, euch zu vergleichen. So viele Menschen in meiner Beratung sagen "Alle haben..." oder "Seine Ex hat damals..." und "In Pornos sieht man..." Es geht beim Sex darum, herauszufinden, was man selbst möchte, ein Regelwerk gibt es nicht. Man kann auch nicht "gut" oder "schlecht" beim Sex sein. Man kann sich nur gut oder schlecht beim Sex fühlen. Und zuletzt: Macht nicht so ein Riesending draus. Unterm Strich ist es nur Sex, Sex definiert nicht eure Beziehung. Er darf mal mehr, mal weniger vorhanden sein, mal superschön und dann wieder langweilig. Das alles ist in Ordnung, wenn es den Beteiligten gut geht. Und wenn euch etwas wirklich stört, dann könnt ihr jederzeit Hilfe holen. Das ist, glaube ich, so meine Botschaft.