"Baba Issues" sind keine "Daddy Issues": Tessniem Kadiri über ihre Vater-Beziehung
watson: Du schreibst in deinem Buch, dass du keine wirkliche Nähe zu deinem Vater empfindest und dir deswegen nicht vorstellen könntest, ihn zu umarmen. Wie ist das für dich, wenn du hörst, dass manche sogar mit ihren Eltern in die Sauna gehen?
Tessniem: Ich finde das total verrückt – nicht im negativen Sinne, sondern, weil es für mich so weit weg ist. Bei uns ist Nacktheit in der Familie ein absolutes Tabu. Eine Freundin von mir duscht beispielsweise, während ihr Vater sich die Zähne putzt. Für mich ist das unvorstellbar. Mein Vater hätte das als respektlos empfunden. Und dann ist da noch ein unterschwelliges Gefühl von: Nacktheit zwischen Vater und Tochter ist falsch.
Je nachdem, wie man aufgewachsen ist, kann das durchaus irritierend sein.
Ja und das zieht sich bis heute durch. Ich habe letztens ein Tiktok gesehen, in dem eine junge Frau tanzt, ihr Vater saß im Hintergrund. In den Kommentaren wurde sie als "respektlos" oder sogar "Schlampe" beleidigt – vor allem von Menschen mit Migrationshintergrund, die ähnliche kulturelle Prägungen haben wie ich. Und da wurde mir wieder klar, wie tief dieses Denken sitzt: dass ein weiblicher Körper automatisch etwas Sexuelles ist. Dass man sich "vor seinem Vater so nicht benehmen darf". Dabei ist das Problem nicht die Tochter, die tanzt – sondern die Gesellschaft, die das sexualisiert.
Wenn die Mutter im Hintergrund gesessen hätte und der Sohn getanzt hätte, hätte wahrscheinlich niemand was gesagt.
Genau. Es ist eine reine Machtfrage. Frauen werden über Respekt und Moral kontrolliert – in jeder Kultur, nur auf unterschiedliche Weise. In meiner Familie war Nacktheit das Tabu, in anderen Familien ist es die Kleidung oder das Dating. Das Muster ist immer dasselbe: Es geht darum, Frauen kleinzuhalten. Ich habe Freundinnen – ohne jeden Migrationshintergrund –, die auf dem Dorf groß geworden sind und schon als Teenager als "respektlos" galten, weil sie kurze Röcke getragen haben. Bei Jungs wäre das nie ein Thema gewesen.
Diese Doppelmoral zeigt sich auch in einer Buchpassage über Mutter- und Vaterliebe. Dein Großvater sagt darin, dass "Mutterliebe stärker ist als Vaterliebe". Wie hast du diesen Satz empfunden?
Erst mal fand ich es krass, wie selbstverständlich er das gesagt hat. Für ihn war das keine Abwertung, sondern einfach Fakt. Ich verstehe, woher das kommt: Über Generationen hieß es, Mütter kümmern sich, Väter verdienen das Geld. Aber gleichzeitig ist das auch eine bequeme Ausrede. Mein Opa hat zum Beispiel gesagt: Am Ende entscheidet Gott, was passiert. Das klingt demütig, ist aber auch eine Art, Verantwortung abzugeben. Meine Mutter ist ebenfalls gläubig, aber sie hat trotzdem Angst, wenn ich spät unterwegs bin. Die Männer in meiner Familie sind die Strengen, die Bestrafenden. Kein Wunder, dass so keine Nähe entsteht.
Du sprichst von "Baba Issues" – eine bewusste Abwandlung von "Daddy Issues". Was unterscheidet die beiden Begriffe?
"Daddy Issues" hat im Westen oft eine sexualisierte Konnotation. Wenn jemand Daddy Issues hat, denkt man sofort: Die steht auf ältere Männer. Dabei geht es eigentlich um emotionale Leere, um fehlende Väterlichkeit. In "Baba Issues" steckt eine kulturelle Dimension.
Wie meinst du das?
Mein Vater ist in Marokko aufgewachsen, ich in Deutschland. Für ihn bin ich die Deutsche – frech, widerspenstig, zu direkt. Für mich ist er der Marokkaner – streng, religiös, patriarchal. Da prallen zwei Welten aufeinander. Er versteht einen "guten Baba" als jemand, der Autorität hat, emotionaler Austausch ist da nicht vorgesehen. Ein "guter Vater" in Deutschland wäre dagegen jemand, der Zuneigung zeigt und Zeit mit den Kindern verbringt. Diese Diskrepanz ist der Kern meiner "Baba Issues".
Du gehst in dem Buch offen mit Wut und Enttäuschung um, die du deinem Vater gegenüber empfindest. Hat er das gelesen?
Er hat fast alles gelesen und ich muss sagen: Er hat sehr respektvoll reagiert. Er meinte, "Du kannst schreiben, was du willst. Das ist deine Perspektive." Das fand ich stark. Er sieht manche Dinge anders, klar, aber er akzeptiert, dass ich das so erlebe.
In einer Stelle schreibst du: "Eine gute Tochter – das habe ich einfach nicht in mir." Was ist eine gute Tochter?
In Marokko habe ich anhand meiner Cousinen gesehen, was mein Vater darunter versteht. Eine gute Tochter ist bescheiden, respektvoll, zurückhaltend. Sie diskutiert nicht, sie widerspricht nicht, sie schämt sich ein bisschen. Ich bin das Gegenteil davon. Ich diskutiere, ich nehme Raum ein, ich will verstehen. Lange habe ich versucht, anders zu sein – stiller, angepasster. Aber das bin nicht ich. Und irgendwann habe ich gemerkt: Diese Wut, dieses Aufbegehren, das ist nicht schlecht. Das ist mein Motor. Es macht mich zu der Frau, die ich bin. Auch wenn mein Vater das nie als Stärke sehen wird.
Also war dir irgendwann klar: Du kannst ihn gar nicht stolz machen, egal was du tust.
Ja, das war ein schmerzhafter Moment. Ich habe irgendwann verstanden: Entweder ich emanzipiere mich von seinen Maßstäben – oder ich verrate mich selbst. Alles, was mich stark macht – mein Mut, meine Arbeit im Journalismus –, sind für ihn keine Gründe, stolz zu sein. Aber Liebe ist noch mal ein anderes Thema. Da hat sich tatsächlich etwas bewegt. Es gab Jahre, in denen wir gar nicht miteinander gesprochen haben, obwohl wir im selben Haus lebten.
Das zeigt ja auch, wie sehr solche Rollenbilder wirken. Gerade in Gemeinschaften, wo Familie und Kultur so eng verflochten sind.
Absolut. In meiner Familie – und in vielen, die ich kenne – wäre es für einen Vater ein Zeichen von Schwäche, seine Tochter bedingungslos zu lieben. Wenn eine Mutter das tut, ist das Teil ihrer Rolle. Aber ein Baba, der Schwäche zeigt? Das wäre unvorstellbar. Väter verstehen ihre Rolle oft als unerschütterlich, stark, unangreifbar. Und wenn du dein Leben lang lernst, dass Zärtlichkeit Schwäche ist, dann kannst du das im Alter nicht einfach ablegen.
Und wenn man sich dann umsieht und merkt: Alle Männer in meinem Umfeld sind so, dann ist das ja auch eine Bestätigung, nichts ändern zu müssen.
Genau. Es ist ein geschlossenes System. Und ich glaube, das ist ein riesiges Problem in unserer Migrationsgesellschaft: Viele Väter haben gar keine Räume außerhalb ihrer Community. Sie sind nicht wirklich Teil der Mehrheitsgesellschaft. Wenn du ständig das Gefühl hast, du bist unerwünscht – dann klammerst du dich an die Strukturen, die dir Zugehörigkeit geben. Auch wenn sie dich gleichzeitig einschränken.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Familie für viele migrantische Männer so existenziell ist – weil sie der letzte sichere Ort ist.
Ja, das glaube ich auch. Deshalb ist es so wichtig, über Baba Issues zu sprechen. Als Teenager dachte ich, ich bin die Einzige, die so mit ihrem Vater kämpft. Heute weiß ich, das stimmt nicht. Und wenn ich durch mein Buch Gespräche anstoßen kann – in Familien, Moscheen, Lesekreisen oder vielleicht sogar in einem Verein mit Babas –, dann wäre das das Schönste überhaupt. Ich will, dass andere junge Frauen verstehen: Die Liebe der Eltern muss man sich nicht verdienen. Sie sollte einfach da sein.
