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"Diskutieren bringt nicht viel" – Psychologin zum Umgang mit Verschwörungsmythen

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Große Ansagen, kleine Geister: Bei einer Hygienedemo in München finden Verschwörungsfreunde zusammen.Bild: picture alliance/Sachelle Babbar
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Wie gehe ich mit Verschwörungstheoretikern um? Kriminalpsychologin erklärt

25.05.2020, 07:06
Gelöschter Benutzer
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Seit der Corona-Pandemie befallen Verschwörungsmythen wie die einer drohenden Impfpflicht das Netz. Und das gefühlt schneller als das Virus selbst. Sachliche Diskussionen kommen mit Anhängern nur selten zustande. Stammen die Menschen noch aus dem persönlichen Umfeld, werden derlei Unterhaltungen umso unangenehmer.

Wie können wir also mit jemanden sprechen, der glaubt, alles besser zu wissen? Und was tun, wenn jemand aus dem eigenen Freundes- oder Bekanntenkreis betroffen ist? Über diese Fragen sprachen wir mit der Kriminalpsychologin Lydia Benecke. Unter anderem setzt sie sich bei der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften mit pseudowissenschaftlichen Thesen auseinander und prüft die Fakten dahinter. Mit Verschwörungsmythen hat sie entsprechend Erfahrung.

watson: Aktuell scheint es so, dass Verschwörungstheorien eine Konjunktur erleben. Warum?

Lydia Benecke: Forschungsergebnisse zu Verschwörungsmythen weisen darauf hin, dass Unsicherheit bis Angst und Hilflosigkeit bis Kontrollverlust Variablen sind, die die Neigung verstärken können, diese zu glauben. Wir sind derzeit in einer Situation, in der diese Variablen unseren Alltag prägen. Entsprechend offener sind einige Menschen für Verschwörungsmythen. Denn die versprechen, die wachsende Hilflosigkeit und Unsicherheit mit einfachen Antworten zu reduzieren. So können entsprechende Überzeugungen verstärkt werden oder sich sogar bei Menschen manifestieren, die zuvor keine solchen Überzeugungen aufwiesen.

Heute werfen viele Menschen Wissenschaftlern wie Christian Drosten oder dem Robert Koch-Institut vor, dass sich die Corona-Lage beinahe täglich ändert. Dabei ist das im wissenschaftlichen Diskurs normal. Wieso also die Vorwürfe?

Viele Menschen beschäftigen sich wenig damit, wie Wissenschaft funktioniert. Entsprechend wissen sie nicht, dass Wissenschaft eben ein fortlaufender Prozess des Erkenntnisgewinns ist. Sie orientiert sich immer an der aktuellen Informationslage. In einer Situation wie jetzt werden Informationen natürlich anhand des internationalen Forschungsstandes immer wieder nachjustiert und -korrigiert. Allerdings besteht bei vielen die Erwartung, dass eine Information rausgeht und die endgültige Wahrheit ist. Aber so funktioniert das nicht, was natürlich für viele unbefriedigend ist. Ein "so ist es" nehmen die Menschen leichter an als ein "so könnte es sein".

Oft suchen sich Anhänger von Verschwörungsmythen zusätzlich einen Sündenbock.

Genau, und dabei denken sich viele: "Auf den kann ich sauer sein, denn der will mir schaden". Ihre Unsicherheit können sie so in Wut umwandeln, und die ganzen schlechten Gefühle werden in Aggressionen katalysiert, um sie darauf gegen den Sündenbock zu richten – etwa auf Demos. Danach gehen sie nach Hause und fühlen sich besser. Leider wird dadurch das Problem größer.

Ist es nicht kontraproduktiv, einen Feind zu schaffen, der im Grunde genommen unerreichbar ist?

Bei Verschwörungsmythen ist immer ein wichtiger Teil, dass die düsteren Mächte, also diejenigen, denen man die Schuld für einen Umstand gibt, unerreichbar, supermächtig, elitär und zutiefst böse sind. Das rechtfertigt dann auch Beleidigungen und aggressive Proteste. Viele Leute nehmen sich in diesem Kontext so wahr, wie den kleinen David aus der Bibel, der eigentlich keine Chance gegen den großen Goliath hätte, ihn aber letztendlich doch besiegt.

Schließen sie sich deswegen auch in Gruppen zusammen?

Ja, dadurch meinen sie, diesen übermächtigen Gegner irgendwann besiegen zu können. Das gesamte Konstrukt ist natürlich Fantasie. Das dient auch dem Selbstwertgefühl, weil die Hoffnung, dass irgendwann das "Gute" gewinnt, wächst. Das führt zu dem Gedanken, in der Gruppe der Auserwählten zu sein, die schon früh gesagt haben, dass sie das Böse besiegen. Es ist eine Allmachtsfantasie.

Aber selbst in dieser Fantasiewelt ist das nicht zu gewinnen.

Ich glaube, viele Leute ergeben sich der Fantasie, dass das geht. Außerdem sehen sie einen Effekt. Und zwar, wenn sie in Internetgruppen immer mehr Gleichgesinnte finden und Woche für Woche immer mehr Menschen Demos besuchen. Und wenn die Untergangsszenarien, die sie sich ausgemalt haben, dann nicht eintreten, können sie sich einreden, dass das an ihrem Widerstand lag. Aber in Wirklichkeit ist das alles ein Ausleben von Emotionen.

Aber warum Menschen wie Bill Gates oder Merkel? Warum nicht das Virus?

Nun, einem Virus kannst du schlecht böse sein. Wie auch? Es hat selbst keine bösen Absichten. Es ist eine abstrakte Gefahr, der man keine personifizierte Schuld zuschieben kann. Es ist aber der Grund, weshalb wir uns alle unsicher fühlen. Und das ist emotional zutiefst unbefriedigend. Sich einer Fantasie von einem greifbaren Feind hinzugeben dagegen nicht.

Häufig macht es auch den Eindruck, als wären die Lebensumstände der Menschen, die sich Verschwörungstheorien hingeben, nicht optimal.

Forschungsergebnisse zu diesem Thema weisen auf Zusammenhänge mit persönlicher Unzufriedenheit und dem Empfinden, über das eigene Leben nicht hinreichend selbst bestimmen zu können, hin. Diese Forschungsergebnisse stimmen mit meinen persönlichen Erfahrungen in Gesprächen mit Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen, überein.

Manche bringen mit Anhängern von Verschwörungsmythen auch psychische Erkrankungen in Verbindung.

Die Forschungsergebnisse zu Verschwörungsmythen weisen darauf hin, dass psychiatrische Erkrankungen in den meisten Fällen nicht ursächlich für den Glauben an Verschwörungsmythen sind. Aber: Menschen, die unter Wahnvorstellungen im Rahmen einer tatsächlich vorhandenen psychischen Erkrankung leiden, können unbewusst in ihrer Lebensumgebung verfügbare Verschwörungsmythen in ihre Wahnvorstellungen einbauen. Somit können sie bei einigen psychisch erkrankten Menschen an deren Symptome andocken und diese inhaltlich beeinflussen. Gleichzeitig sind aber die meisten, die an Verschwörungsmythen glauben, psychisch gesund.

Gerade Einsamkeit wird dadurch befeuert, dass sich viele Menschen von anderen abgrenzen, sobald sie Verschwörungsmythen für sich entdecken. Da werden etwa bei Facebook Freunde gelöscht oder auch im normalen Leben nicht mehr eingeladen. Sorgt man so nicht dafür, dass sich die Menschen stärker diesen Theorien widmen?

Das ist wirklich ein großes Problem in der aktuellen Entwicklung, für das es wohl keine einfache Handlungsempfehlung gibt. Es macht einen großen Unterschied, wie nah die betroffene Person einem steht. Bei Familienangehörigen oder engen Freunden sind Menschen eher gewillt, Zeit und Energie in die inhaltliche Auseinandersetzung zu investieren, als beispielsweise bei Bekannten, die in der Facebook-Freundesliste sind. Natürlich sind entsprechende Konflikte mit nahestehenden Menschen aber auch für beide Seiten gefühlsmäßig aufreibend und belastend.

Das muss es aber nicht immer sein, oder?

Nun, es macht auch einen Unterschied, wie stark eine Person bereits von Verschwörungsmythen überzeugt ist. Wenn beispielsweise jemand ein fragwürdiges Video, Bild oder Text teilt, ohne viel über das Thema zu wissen, können Links mit Faktenchecks und seriösen Informationen zum Thema eventuell schon hilfreich sein. Hier kann ich "Corretiv", "mimikama" oder "Volksverpetzer" empfehlen. Auch Wissenschaftsmagazine wie "Spektrum" arbeiten die Themen nachvollziehbar auf.

Anders sieht es aus, wenn eine Person bereits einen starken Glauben an Verschwörungsmythen entwickelt hat und jede Art von seriöser Information als "Lügenpresse" abtut. Dann ist eine sachliche Auseinandersetzung nicht mehr möglich. Zwischen diesen beiden Extremen liegen aber viele mögliche Ausprägungsstufen.

Bei mittelgradig ausgeprägtem Verschwörungsglauben kann neben dem Anbieten von Faktenchecks auch die direkte Frage hilfreich sein, wodurch die Person denn erkennen würde, dass ihre Annahme unzutreffend ist. Im besten Fall kommt die Person beim Nachdenken über diese Frage dann selbst darauf, dass sie ein Konstrukt vertritt, welches logische Fehlschlüsse aufweist.

Wie würde das in einer konkreten Situation aussehen?

Wenn jemand beispielsweise sagt, dass die Informationen des RKIs durch die Bundesregierung (hier wird als personifizierter Sündenbock gerne Angela Merkel genannt) gesteuert würden, dann kann man darauf hinweisen, dass die aktuelle Pandemie ein weltweites Problem ist, an dem zahlreiche Teams von Wissenschaftlern in vielen unterschiedlichen Ländern forschen und sich über ihre aktuellen Ergebnisse austauschen. Man kann dann fragen, wie genau es der Bundesregierung oder Frau Merkel denn gelingen sollte, die internationale Forschung gleichzuschalten.

Dann könnte die betreffende Person aber wieder mit dem "allmächtigen" Sündenbock argumentieren.

Dann wäre dies der richtige Moment, um zu fragen, woran die dies vertretende Person denn merken würde, dass ihre Annahmen falsch sind. Im besten Fall denkt die Person dann wirklich darüber nach und erkennt die Zirkelschlüsse, also eine Beweisführung, in der das zu Beweisende bereits enthalten ist. Im schlechtesten Fall weicht sie aus und setzt sich hiermit nicht auseinander. Dann ist eine sachbezogene Argumentation nicht mehr möglich.

Hierfür sind unter anderem auf emotionaler Ebene die Abwehr von Schamgefühlen – wer möchte schon zugeben, dass er sich geirrt hat – und auf kognitiver Ebene der sogenannte "Confirmation Bias" – also „Bestätigungsfehler“ – verantwortlich.

Was bedeutet das?

Menschen neigen dazu, Informationen unbewusst so auszusuchen und zu interpretieren, dass sie zu ihrer vorgefassten Meinung passen. Informationen, die zur vorgefassten Meinung passen, werden eher wahrgenommen und als Bestätigung der vorgefassten Meinung genutzt. Informationen, welche die eigene Meinung infrage stellen, werden weniger wahrgenommen und eher als irrelevant verworfen. Dieser Effekt ist besonders stark, wenn Menschen von etwas bereits sehr überzeugt sind oder wenn das Thema sie persönlich gefühlsmäßig berührt. Umso stärker ein Mensch also bereits von Verschwörungsmythen überzeugt und stark gefühlsmäßig involviert ist, desto weniger werden ihn Sachargumente erreichen.

Wenn es sich hierbei um jemanden handelt, der einem besonders nahe steht, ist diese Erkenntnis natürlich besonders frustrierend.

An dieser Stelle kann man dann eigentlich nur noch auf der menschlichen und gefühlsmäßigen Ebene in der Kommunikation ansetzen. Das bedeutet, dass nicht mehr über die Inhalte gesprochen wird, sondern man sich mit der Person eher darüber unterhalten kann, wie es ihr eigentlich geht.

Wenn der betroffene Mensch sich aus Unzufriedenheit in Verschwörungsmythen verliert, kann man versuchen, ihm zu helfen, sein Leben zu verbessern. Da Verschwörungsmythen für viele Menschen eine emotionale Funktion erfüllen, kann es im besten Fall sein, dass dieser Glaube für sie nicht mehr notwendig ist, wenn sie mit sich und ihrem Leben wieder zufriedener sind.

Und wenn das alles nicht hilft?

In solchen Fällen kann es besonders bei Angehörigen und engeren Freunden schwer sein, zu akzeptieren, dass man die Person nicht von ihren irrationalen Überzeugungen abbringen kann. Ob man sich dann darauf einigt, entsprechende Themen in der Kommunikation miteinander auszuklammern, oder ob man wirklich einen Kontaktabbruch als letzte Lösung für sich wählt, ist eine sehr schwere Entscheidung. Wenn man sich hiermit überfordert fühlt, kann man Beratungsstellen wie die Sekten-Info NRW kontaktieren.

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