Der Bildhauer Gunter Demnig hat 1993 dafür gesorgt, dass das Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus nicht nur an einem Feiertag, sondern tagtäglich in Form von Kunst auf den Straßen stattfindet.
Watson hat mit Katja Demnig gesprochen. Als Geschäftsführerin der "Stiftung – Spuren – Gunter Demnig" trägt sie maßgeblich zur Weiterentwicklung der Stolpersteine bei. Sie ist nicht nur die Ehefrau von Gunter Demnig, dem Initiator der Stolpersteine, sondern engagiert sich auch selbst intensiv für das Projekt.
Watson: Erinnern wir mit den Stolpersteinen oder beruhigen wir einfach nur unser Gewissen als Gesellschaft?
Katja Demnig: Das ist eine schwierige, aber wichtige Frage. Ich glaube, bei älteren Menschen spielt oft ein Schuldgefühl mit, das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen. Aber junge Menschen sollten nicht das Gefühl haben, eine Verantwortung für die Vergangenheit zu tragen, die nicht ihre ist. Stolpersteine sind keine Beruhigung fürs Gewissen, sondern Mahnmale, die uns daran erinnern, wie wichtig es ist, in der Gegenwart respektvoll miteinander umzugehen.
Wie hat sich die Idee der Stolpersteine seit ihrer Gründung im Jahr 1993 weiterentwickelt?
Anfangs gab es viele Hürden bei Genehmigungen, besonders in Städten wie Köln und Berlin. Heute arbeiten wir mit lokalen Initiator:innen zusammen, die sich um alles kümmern – von Genehmigungen bis zu Zeremonien. Dadurch verlegen wir mittlerweile monatlich 750 bis 800 Steine.
Wo wurde der erste Stolperstein gelegt?
In Köln wurden die ersten 25 Steine ohne Genehmigung von meinem Mann verlegt, ohne genau zu wissen, wie das Projekt weitergehen würde. Da er damals nicht mitgeschrieben oder Daten archiviert hatte, weiß er heute leider nicht mehr, welche Namen auf diesen Steinen standen und wo diese genau liegen.
Wer kümmert sich um die Pflege und Erhaltung der Steine?
Die Pflege und Erhaltung der Stolpersteine übernehmen glücklicherweise die Menschen vor Ort. Unsere Initiator:innen organisieren regelmäßige Putzaktionen, vor allem zu den wichtigen Feiertagen wie dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus oder rund um die Reichspogromnacht.
In letzter Zeit häufen sich die Vorfälle von Vandalismus an Stolpersteinen.
Es tut uns natürlich immer weh, wenn Stolpersteine Opfer von Vandalismus werden, genauso wie bei jeder anderen Schändung, sei es an Gräbern oder Gedenkstätten. Aber solche Vorfälle sind, glücklicherweise, sehr selten. Bei rund 120.000 Stolpersteinen gibt es nur wenige Fälle im Monat – oft sind es vier bis fünf, manchmal sogar nur einer. Häufiger kommt es bei Bauarbeiten vor, dass Steine beschädigt oder entfernt werden, was aber dann kein Vandalismus im klassischen Sinne ist und uns gleich gemeldet wird.
Kann man wirklich von einem würdevollen Gedenken sprechen, wenn die Namen der Opfer auf dem Boden liegen und täglich übertreten werden?
Für uns ist das Verlegen der Stolpersteine im Boden weder unwürdig noch respektlos, sondern soll erinnern. Im jüdischen Glauben gilt: Was unbeabsichtigt geschieht, ist nicht schlimm – zum Beispiel, wenn man versehentlich auf einen Stein tritt. Aber: Wenn Angehörige sagen, sie möchten keinen Stein für ihre Familie im Boden, dann respektieren wir das natürlich.
Wieso werden die Steine dann nicht in Hauswände integriert?
Stolpersteine liegen bewusst im Boden, weil sie Teil des öffentlichen Raums sind – direkt vor dem letzten frei gewählten Wohnort der Opfer. Hauswände gehören den Eigentümer:innen, und nicht jeder ist bereit, dort ein Zeichen des Gedenkens anzubringen. Die Steine im Gehweg ermöglichen ein niedrigschwelliges, stilles Erinnern.
Gab es Fälle, in denen Sie Widerstand in Gemeinden oder von Hauseigentümer:innen erlebt haben?
Ja, es gab vereinzelt Widerstand – oft von Eigentümer:innen, die das Haus von ihren Eltern übernommen haben und keine Verbindung zur Geschichte sehen wollen. Wir betonen dann: Stolpersteine klagen niemanden an, sie erinnern nur an die Menschen, die dort lebten.
Wie wird die historische Genauigkeit der Inschriften gewährleistet, und welche Quellen werden dabei herangezogen?
Die Inschriften basieren auf sorgfältiger Recherche, wir verlassen uns nicht auf Erzählungen allein. Stattdessen nutzen wir Archivmaterial, Meldeunterlagen, das Bundesgedenkbuch, das Arolsen-Archiv und Standesämter. Wenn nötig, suchen wir auch aktiv nach Angehörigen – heute oft über Social Media. Wir tragen nur gesicherte Informationen ein und aktualisieren Steine, wenn sich später noch neue, relevante Fakten ergeben sollten.
Wie wird die Finanzierung der Stolpersteine sichergestellt?
Die Finanzierung der Stolpersteine kommt in der Regel aus privaten Spenden – meist von Initiativen oder engagierten Einzelpersonen vor Ort. Besonders Schulklassen bringen sich stark ein. Angehörige sollen nicht zur Kasse gebeten werden – das ist uns wichtig. Und wenn es finanziell mal eng wird, finden wir immer eine Lösung.
Was kostet ein Stolperstein?
In Deutschland 120 Euro, im Ausland 132 Euro – vor allem wegen höherer Versand- und Logistikkosten. Dazu kommen Fahrtkosten, denn die Verlegungen finden oft auch in entlegenen Regionen statt.
Wie wählen Sie die Orte und Namen für neue Stolpersteine aus?
Die meisten Stolperstein-Initiativen kommen heute direkt aus den Gemeinden – oft von kleinen Gruppen, Hausbewohner:innen, Vereinen oder Bürgermeister:innen, die aktiv recherchieren und Gedenken vor Ort ermöglichen wollen. Früher hat mein Mann allein recherchiert, oft nur mit einer Quelle – heute ist das Ganze viel professioneller und besser dokumentiert.
Ist es nicht paradox, dass Nachfahren von Opfern oft die Initiative für Stolpersteine ergreifen – statt zum Beispiel Nachfahren der Täter:innen?
Es mag paradox erscheinen. Aber die Reaktionen und Perspektiven sind sehr unterschiedlich. Manche Nachfahren von Opfern wollen aktiv an den Verlegungen teilnehmen, während andere sich eher zurückhalten. Ebenso variiert die Haltung der heutigen Hausbesitzer:innen: Einige sind unterstützend, andere weniger interessiert. Es gibt keine einfache Antwort, da jede Geschichte und jedes Verhältnis zu den Stolpersteinen einzigartig ist. Aber die wichtigste Aufgabe ist es, in der Gegenwart zu handeln und eine Gesellschaft zu schaffen, in der Vielfalt respektiert wird.
Wie kann man die jüngere Generation stärker in das Stolperstein-Projekt einbinden, um das allgemeine Gedenken lebendig zu halten?
Wichtig ist, das Projekt nicht aufzudrängen. Schüler:innen sollten je nach ihren Interessen mitarbeiten – sei es durch Gedichte, Videos oder Recherchearbeit. Wenn Schüler:innen ihre Stärken einbringen, bleibt das Projekt positiv in Erinnerung und das Gedenken wird lebendig weitergetragen.
Wird in Deutschland Ihrer Meinung nach genug gegen das Vergessen getan?
Ja, aber mit einem großen "Aber". Es wird zu wenig Prävention gegen Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung getan. Es braucht mehr Bildung über das Zusammenleben in Harmonie, sei es in Ethikunterricht oder in anderen Bereichen. Denn Erinnern allein reicht nicht aus – wir müssen in die Zukunft blicken und ein respektvolles Miteinander fördern. In Deutschland gibt es immer noch zu viele Diskussionen und Auseinandersetzungen darüber, wie man mit der Vergangenheit umgeht.