Auf dem Foto steht ein Mann im Behandlungszimmer einer Hausarztpraxis, mit dem Rücken zur Kamera gedreht. Sein T-Shirt ist hochgekrempelt, damit der Arzt ihn untersuchen kann: Behutsam drückt er ein Stethoskop zwischen die Schulterblätter seines Patienten. Eine Szene, die wir alle schon einmal erlebt haben. Mit einem Unterschied:
Der Arzt auf dem Bild ist nackt. Naja, fast. Lediglich eine Blume verdeckt seinen Po.
Das Foto, das den ein oder anderen erst einmal zum Schmunzeln verleitet, weist auf ein ernsthaftes Problem hin: Es ist entstanden als Teil der Protestaktion #blankebedenken und soll zeigen, wie wehrlos Hausärzte sind, die während der Corona-Krise teils ohne Schutzkleidung auskommen müssen.
Nach wie vor fehlt es in der ambulanten medizinischen Versorgung stellenweise an Schutzkleidung oder Schutzmasken für das Fachpersonal. Die Ärzte und Sprechstundenhilfen in den Praxen sind es allerdings, die häufig mit Risikopatienten zusammenarbeiten. Sollten die Patienten oder die Ärzte selbst unbemerkt mit dem Coronavirus infiziert werden und es verbreiten, wäre das verheerend. Umso wichtiger ist es, dass Hausärzte und Sprechstundenhilfen ausreichend mit Schutzmaterialien versorgt sind.
Im Interview mit watson spricht die Hausärztin Sandra Blumenthal über Entstehen und Ziele der Aktion #blankebedenken sowie den Schutzkleidungsmangel, den sie und ihre Kollegen während der Corona-Krise erleben. Blumenthal ist eine der Ärztinnen, die sich für den Protest hat ablichten lassen.
watson: Der Kiosk neben meiner Haustür wirbt mit dem Verkauf von FFP2-Masken. Was halten Sie davon?
Sandra Blumenthal: Gar nichts, um ehrlich zu sein. Nicht, weil ich persönlich neidisch wäre – sondern weil ich glaube, dass diese Art von Masken an anderer Stelle sehr viel dringender benötigt werden.
Bei Ihnen in der Praxis zum Beispiel.
Ja, als in unserer Praxis die Schutzmasken knapp wurden, haben wir uns welche von einer bekannten Schneiderin nähen lassen. Aufgrund der großen Nachfrage war das für sie nicht einfach: Zwischenzeitlich waren sogar Stoffe und Gummibänder knapp, als plötzlich alle Stoffmasken gebraucht haben. Meine Lieblingsmaske ist übrigens von einer unserer Patientinnen, sie hat für jeden Mitarbeiter in der Praxis eine genäht.
Weil Sie und andere Hausärzte vom Mangel entsprechender Schutzkleidung während der Corona-Pandemie direkt betroffen sind, haben Hausärzte die Aktion #blankebedenken ins Leben gerufen. Sie gehören zu den fotografierten Ärztinnen und Ärzten. Wie kam das zustande?
Vor etwa einem Monat hat der französische Arzt Alain Colombiér gegen die mangelnde Versorgung mit Schutzkleidung in der ambulanten Medizin protestiert und ein Foto von sich auf Facebook gepostet – nackt. Ein Kollege aus Würzburg, Christian Rechtenwald, hat die Aktion aufgegriffen und weitere Ärzte dazu aufgerufen, mitzumachen. Anlass war, dass uns am 17. April überraschend verkündet wurde, die Übergangsregelung der Krankschreibung per Telefon sei ab der darauffolgenden Woche beendet. Aus Wut, aber auch aus Verzweiflung über diese kurzfristige und unkommentierte Maßnahme, die uns ganz plötzlich vor neue Herausforderungen stellte, wurde #blankebedenken ins Leben gerufen.
Warum sind Sie denn nackt auf den Bildern? Ist das Provokation?
Zuerst einmal muss ich sagen: Normalerweise stellt niemand von uns Nacktbilder von sich ins Netz. Dass wir es nun trotzdem tun, ist ein Akt der Verzweiflung. Mit der Nacktheit zeigen wir: Wir sind keine Superhelden! Wenn man uns die Schutzkleidung wegnimmt, sind wir verletzlich wie jeder andere Mensch auch. Natürlich bekommen wir allein durch die Form unseres Prostest mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Wir fanden es notwendig, diesen Schritt zu gehen, um zu zeigen: Jetzt ist es genug. Auch wir haben eine Stimme, die gehört werden muss. Deshalb habe ich beschlossen, mitzumachen und habe zum ersten Mal den Selbstauslöserknopf meines Handys gedrückt.
Und wie reagieren die Menschen auf Ihre Aktion?
Sehr positiv. Wir bekommen viel Unterstützung aus der Bevölkerung, auch international, wie zum Beispiel in einem Beitrag des "Guardian" in Großbritannien. Damit haben wir gar nicht gerechnet, vor allem nicht von den britischen Kollegen, die gerade mit einer sehr viel schärferen Corona-Lage zu kämpfen haben als wir hierzulande. Auch über einen Tweet von Martin Scherer, dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin haben wir uns sehr gefreut – und mussten darüber auch ein wenig schmunzeln. Er schrieb: "Zwingen Sie nicht den Präsidenten…" Das signalisiert Unterstützung.
Sie nannten als Auslöser der Aktion das ursprünglich geplante Ende der telefonischen Krankschreibungen. Was wäre denn so schlimm daran, wenn wir uns wieder vom Hausarzt persönlich krankschreiben ließen? Ist es nicht sicherer, den Arzt einen Blick drauf werfen zu lassen, wenn wir uns krank fühlen?
Wir betreuen in der Hausarztpraxis nicht nur Corona-Patienten, sondern vor allem ältere und kranke Patienten. Viele von ihnen gehören zu den Risikogruppen für einen schweren Verlauf einer Sars-CoV-2-Infektion. Zum Schutz dieser Patienten ist es momentan wichtig, nicht jeden Verdachtsfall gleich persönlich zu untersuchen. Wenn wir uns infizieren, könnten wir an dem Tag, bevor Symptome auftreten – an dem Tag also, an dem wir besonders ansteckend sind – viele dieser chronisch Kranken in unserer Praxis ungewollt mit dem Coronavirus anstecken.
Menschen, die nichts von einer Infektion bemerkt oder nur sehr leichte Symptome haben, könnten andere im Wartezimmer infizieren.
Was per Telefon natürlich nicht passiert...
Genau. Eine telefonische Krankschreibung ist übrigens gar nicht so simpel, wie kritische Stimmen manchmal behaupten: Wir winken die Patienten nicht einfach durch, nachdem sie uns ihre Krankheitssymptome telefonisch geschildert haben. Wir müssen ihnen viele Fragen stellen, damit wir nichts übersehen. Aber wir kennen unsere Patienten in vielen Fällen lange und sehr gut. Wir können geschilderte Symptome einordnen und wissen, wer eine Krankheit eher herunterspielt – oder Symptome stärker wahrnimmt als andere und nur ein paar beruhigende Worte braucht.
Was machen Sie, wenn Sie glauben, es könnte sich um Covid-19 handeln?
In der Praxis, in der ich arbeite, kommen diese Patienten in die sogenannte Infektsprechstunde. Dort machen wir einen Abstrich, um den Patienten auf das Virus zu testen. Auch bei anderen leicht übertragbaren Infekten ist eine telefonische Absprache gut: Wenn Sie wegen einer Migräne im Wartezimmer sitzen, möchten Sie dann gerne neben jemandem mit einem Magen-Darm-Infekt sitzen? Oder die gleiche Toilette benutzen?
Deswegen wäre es auch in Zukunft wichtig, bei milderen Infekten, die wir per Telefon diagnostizieren zu können, die Patienten telefonisch krankschreiben zu können. Die Person, die krankschreibt, ist immer dieselbe. Ich möchte als Ärztin selbst entscheiden können, ob ich den Patienten persönlich oder per Telefon behandele. Als Allgemeinmedizinerin habe ich das gelernt. Und im Moment gilt doch: Wenn es letztlich nur um einen bürokratischen Akt geht, ist es das nicht wert, rare Schutzkleidung zu verschwenden.
Wie ist denn aktuell die Lage? Hat sich die Versorgung mit Schutzmasken und -anzügen seit Beginn Ihres Protests verbessert?
Die Arztpraxen hierzulande waren von Anfang an unterschiedlich gut vorbereitet auf die Corona-Pandemie. Es ist auch gar nicht so einfach, FFP2- oder FFP3-Masken herzustellen, wie sie von medizinischem Fachpersonal benötigt werden: Der Rohstoff, aus dem die Masken bestehen, ist sehr aufwendig in der Herstellung, damit er uns tatsächlich schützt. Alle sind sehr bemüht – doch es passieren auch Fehler. Kürzlich an Hausarztpraxen ausgelieferte FFP2-Masken waren gefälscht und mussten zurückgerufen werden. Sie waren kaum besser als Kaffeefilter.
Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass wir momentan auch international um die Schutzausrüstung konkurrieren. Es wäre nicht fair, das gesamte Material nun den Ländern wegzukaufen, die es sich zum aktuellen Marktpreis nicht in großen Mengen leisten können, da müssen wir Solidarität beweisen. Glücklicherweise hatten manche Kollegen noch Masken von der Vogel- oder Schweinegrippe übrig, dafür aber vielleicht keine Schutzanzüge. Und dann mussten viele Mediziner in der ambulanten Versorgung improvisieren, als die Schutzmittel knapp wurden.
Was meinen Sie damit?
Wie schon erwähnt, haben auch wir teilweise auf selbstgenähte Stoffmasken zurückgegriffen. Zur Behandlung unserer Infektionspatienten trägt mein Kollege alte OP-Kleidung, die unser Praxischef noch gelagert hatte. Ein Kollege aus dem Norden hat sich einen Fahrradhelm mit Plastikfolie als Schutzschild gebastelt. Wir haben Schutzschilde aus Baden-Württemberg organisiert. Viele Landärzte haben um Spenden gebeten, daraufhin haben sich Handwerksbetriebe gemeldet, die ihre eigenen Schutzmasken an "ihre" Ärzte geschickt haben. Wir mussten teilweise ganz schön erfinderisch werden, um unsere Patienten und uns selbst vor Ansteckung zu schützen.
Wie sieht ihr Alltag in der Praxis ansonsten aus? Was hat sich seit Beginn der Corona-Krise verändert?
Wir haben unsere Sprechstunden umgestellt. Vormittags sind die Zeiten für unsere Patienten ohne Infektionskrankheiten, nachmittags mit. Dafür tauschen auch unsere Teams einmal komplett durch. So kommt der Arzt, der mit infektiösen Patienten arbeitet, nicht in Kontakt mit Patienten, die andere Leiden haben. Vor allem unsere Risikopatienten sind so gut geschützt, das ist wichtig – schließlich haben viele von ihnen besondere Angst vor einer Ansteckung und haben sich zeitweise deswegen nicht in die Praxis getraut.
Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?
Ich nehme mir dann so viel Zeit, wie ich kann, um die Fragen meiner Patienten telefonisch zu klären, bevor sie in die Praxis kommen. Ängste und Sorgen spielen eine große Rolle während der Krise – umso wichtiger ist es, das Vertrauen unserer Patienten in uns Ärzte zu stärken. Sie machen derzeit sehr viel mit. Wir sind sehr dankbar, dass sie uns so viel Verständnis sowie Wertschätzung entgegenbringen und mit kleinen Gesten ihre Anerkennung zeigen. Ich habe noch nie so viel Schokolade geschenkt bekommen.
Fühlen Sie sich ähnlich gut vonseiten der Politik unterstützt?
Natürlich wurde auch für uns im Bundestag applaudiert. Aber wir brauchen einen stärkeren Fokus auf die ambulante Versorgung. Das zeigt uns das Beispiel Norditalien, wo die Corona-Lage wohl auch deswegen eskalierte, weil die ambulante Versorgung zusammengebrochen ist und so viele Hausärzte selbst erkrankt sind.
Noch drohen uns keine italienischen Verhältnisse – aber wir wollen es auch nicht so weit kommen lassen. Wir Ärzte sind keine Fußballmannschaft und brauchen keinen Applaus – aber wir brauchen Unterstützung, damit wir unsere Arbeit weiterhin so gut machen können, wie bisher. Wir möchten ernstgenommen werden und wir möchten gehört werden.