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Interview

Raúl Krauthausen prangert ungelöste Probleme der Inklusion im Alltag an

Aktivist Raùl Krauthausen
Der Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen hat ein neues Buch geschrieben: "Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden." bild: Anna Spindelndreier
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"So wenig wie möglich auffallen": Raúl Krauthausen prangert ungelöste Probleme der Inklusion an

14.03.2023, 16:0614.03.2023, 17:13
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Raúl Krauthausen geht es nicht darum, die Einbeziehung behinderter Menschen in Deutschland in Zahlen zu fassen. Oder einen Statusbericht zum Stand der Inklusion zu geben. Einen komplexen, gesellschaftlichen Prozess könne man nicht auf Zahlen oder Daten herunterbrechen, schreibt er im Klappentext zu seinem Buch.

Als Autor möchte Krauthausen in seinem Buch vielmehr den Blick auf die immer noch ungelösten Aufgaben der Inklusion lenken.

Raúl Aguayo-Krauthausen Buch "Wer Inklusion will, findet einen wWg"
Das neue Buch von Raúl Aguayo-Krauthausen erscheint am 14. März 2023.Bild: Rowohlt Polaris Verlag

Mit watson hat der Menschenrechtsaktivist über sein Buch und die Wahrnehmung von allem, was außerhalb der Norm in unserer Gesellschaft ist, gesprochen. Und darüber, was seiner Meinung nach im Wohlfahrtssystem schiefläuft.

watson: Du schreibst in Deinem Buch, dass die Auseinandersetzung mit Deiner Behinderung während des Studiums schmerzhaft war. Warum?

Raúl Krauthausen: Ich merkte irgendwann: Ich kann mich diesem Thema wohl nicht ganz verschließen. Beim Schreiben meiner Diplomarbeit habe ich zum ersten Mal realisiert, dass ich das Thema Behinderung verdrängt habe – aber nicht auf einer psychologischen Ebene, sondern es hat mich einfach davon abgehalten, mich meinen eigenen Interessen zu widmen.

"Je weiter ich grub, desto mehr systemische Probleme fand ich."
Raúl Krauthausen

Welche Interessen waren das?

Eigentlich Kommunikation, Medien und Politik, weswegen ich auch Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert habe. Im Diplom habe ich beides verbunden – das, was ich gelernt hatte zum Phänomen Behinderung. Und je weiter ich grub, desto mehr systemische Probleme fand ich.

Zum Beispiel, dass behinderte Menschen medial immer entweder als Opfer oder als Helden dargestellt werden, und darauf aufbauend ganz viele Klischees in der Gesellschaft legitimiert werden: Dass man Behinderten helfen muss, dass sie bemitleidenswert sind, dass sie nichts können. Wenn sie was können, dann müssen es gleich Superhelden sein, die paralympische Goldmedaillen erringen.

"Man will es eigentlich der Mehrheitsgesellschaft bequem machen. Die Behinderten sollen so wenig wie möglich auffallen."

Was hat das mit Dir gemacht?

Es hieß meine ganze Kindheit: Wer keinen Sport macht, wird krank. Und du bist krank. Du musst Sport machen. Also das war das, was bei mir ankam. Aber ich muss nicht ständig Erwartungen von außen entsprechen. Weil auch mit Sport werde ich nicht laufen können.

Meine Erkenntnis ist: Man will es eigentlich der Mehrheitsgesellschaft bequem machen, die Behinderten sollen so wenig wie möglich auffallen. Ich kann nicht laufen, aber ich könnte zumindest daran arbeiten. Vielleicht will ich es aber gar nicht. Und zu merken, wie viel über behinderte Menschen gesprochen wird und wie wenig mit ihnen, wie wenig sie selbst entscheiden und wie viel über sie entschieden wird, hat mich im Laufe der Jahre wirklich wütend gemacht.

Dann bist Du Aktivist geworden?

Es waren diese vielen kleinen Beobachtungen und Momente. In den 80er Jahren ging ich auf eine inklusive Schule. Es gab Kinder mit und ohne Behinderung. Es war gar kein Problem. Warum wird das 40 Jahre später immer noch so diskutiert, als wäre das ein Ding der Unmöglichkeit? Wir waren zehn Jahre zusammen in einer Klasse und haben alle gelernt, dass jeder unterschiedlich gut ist.

Welche Erfahrungen in der Schule haben Dich geprägt?

Ich wurde mit einem Behinderten-Fahrdienst in die Schule gebracht, weil der ÖPNV noch keine Rampen hatte: noch drei andere Kinder einsammeln, das hat eine Stunde gedauert und war für mich Zeitverschwendung. Ich habe es gehasst. Eines Tages steige ich aus, mein Physiklehrer kommt vorbei und auf dem Bus stand: "Schwerbehindertentransport". Er sagte zu mir, dass er nicht versteht, warum da "Schwerbehindertentransport" draufsteht und nicht "Fahrdienst". Eigentlich transportiert man nur Dinge und Tiere, Menschen werden immer befördert oder gefahren und: "Raúl, du bist kein Castor-Behälter".

An einer Förderschule hätte man das nicht so wahrgenommen?

Ich weiß nicht, ob ich all das so an einer Förderschule gelernt hätte, wo ich nur mit behinderten Kindern zusammen aufgewachsen wäre. Die Stellung von Behinderung in der Gesellschaft ist eigentlich das schmerzhafte, ermüdende und kräftezehrende.

Du beschreibst in deinem Buch den "Besteckkasten der Belastung". Was ist das?

Das ist die sogenannte Spoon-Theorie. Du hast eine bestimmte Anzahl an Löffeln am Tag zur Verfügung, um deinen Alltag zu bewältigen. Wir alle haben unterschiedliche Energielevel, heißt: mal mehr, mal weniger Löffel. Diese Löffel regenerieren sich in der Regel alle 24 Stunden. Wenn man sagt, "ich habe keine Löffel mehr", dann heißt das: "Ich bin am Ende meiner Kräfte angelangt für heute".

Es gibt auch die Gabeln: Wenn du über deine Energiegrenze hinaus gehst, sind das metaphorisch gesehen die Stiche in deinem Körper, die länger als 24 Stunden brauchen, um zu regenerieren. Das, was vielleicht langfristig zum Burnout führt.

"Das ist Ableismus: Wir lassen zu, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die mehr Nachteile erleben als andere."

Und dann gibt es noch die Messer, die bleibende Schäden hinterlassen können. Wenn du permanent die Signale deines Körpers ignorierst, dann hast du vielleicht irgendwann einen Tinnitus oder andere bleibende Schäden.

Haben wir nicht alle diesen "Besteckkasten"?

Bei Menschen mit Behinderungen ist dieses Besteck manchmal früher aufgebraucht als bei Menschen ohne Behinderung. Wenn zum Beispiel der Aufzug auf dem Weg zur Arbeit kaputt ist, dann kostet es mich Zeit und Energie. Diese Zeit zahlt mein Arbeitgeber aber nicht, und der extra Aufwand wird nicht gesehen. Auch das ist Ableismus: Wir lassen zu, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die mehr Nachteile erleben als andere.

Warum sind eigentlich so wenig Menschen mit Behinderungen im Management von Wohlfahrtsinstitutionen?

Es hat einfach damit zu tun, dass diese Menschen im Wohlfahrtssystem als behinderte Menschen beschäftigt sind. Sie sind offiziell keine Angestellten, sondern Beschäftigte, haben also weniger Rechte, verdienen weniger als den Mindestlohn und dürfen nicht streiken oder sich gewerkschaftlich organisieren. Diejenigen, die sagen, was gefördert wird, sind die Nichtbehinderten, die angeblich die "Kompetenz" dazu haben. Man könnte die Beschäftigten fördern, um vielleicht selbst irgendwann angestellt zu werden. Aber dann würde die Werkstatt ja ihr eigenes Geschäftsmodell torpedieren.

Was ist dieses Geschäftsmodell?

Ein Automobilkonzern gibt den Auftrag, Warndreiecke zu verpacken. Die Behindertenwerkstatt mit dem günstigsten Preis oder besten Angebot bekommt den Zuschlag. Diesen Preis kann sie bieten, weil sie Beschäftigte mit Behinderung hat, die für 1,35 Euro pro Stunde arbeiten. Werkstätten sind also gar nicht motiviert, ihre besten Mitarbeiter:innen zu qualifizieren. Das ganze System profitiert davon. Wohlfahrtsstrukturen werden von nicht behinderten Menschen geführt, weil die behinderten Menschen klein gehalten werden und nicht die Möglichkeit bekommen sollen, innerhalb der Struktur aufzusteigen. Das ist mindestens Freiheitsberaubung.

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Ist Inklusion also schlicht nicht gewollt?

Wir haben als Gesellschaft nicht gelernt, mit dem Thema Behinderung umzugehen. Wir bauen Systeme, wie Wohlfahrtsverbände, die in Wahrheit eigentlich die Mehrheitsgesellschaft davon entlastet, sich dem Thema "Vielfalt" zu stellen. Wir sortieren behinderte Menschen in Sondereinrichtungen aus, unter dem Vorwand, "dort gehe es ihnen besser". Aber es geht ihnen dort gar nicht besser.

In der Gesellschaft herrscht also sehr wenig Verständnis für Dinge, die außerhalb der Norm sind?

Genau. Ich glaube, dass man das gesetzlich regeln müsste. Genau wie die Frauenquote, weil wir mit Freiwilligkeit an der Stelle nicht weitergekommen sind. Und dann kommen die ganzen Männer in den Führungsetagen, und sagen: "Dann gibt es aber einen Leistungsabfall, weil Frauen keine Ahnung haben. Und bei uns kommt nur Kompetenz nach oben." All das, was man über Diskriminierung von Frauen weiß, gilt auch für das Thema Behinderung. Wir verkennen, dass die mit Behinderung oder mit dem anderen Geschlecht etwas leisten können.

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