Mit der Kita hört die Kindheit auf: Das meint Ilona Böhnke. Kürzlich beschrieb die langjährige Erzieherin in einem Beitrag auf watson.de, wie Kita-Kinder in Dauerstress versetzt werden – nur, um der Leistungsgesellschaft gerecht zu werden.
Da nähmen schon Kleinkinder an sogenannten Bildungsbereichen teil, in denen sie Zahlen kennenlernen, Englisch üben oder turnen sollen. Zeit zum freien Spielen bleibe da nicht, kritisiert Böhnke:
Hinzu kommt, dass Kita-Kinder schon mal zwölf Stunden pro Tag, beziehungsweise 55 Stunden pro Woche in den Stätten verbringen – natürlich getrennt von den Eltern.
Dass sowohl Stress als auch Leistungsdruck Probleme unseres Zeitalters sind, mit denen wohl jeder schon einmal in Berührung gekommen ist, ist kein Geheimnis mehr. Und dass die Jüngsten unter uns vor dieser Art von Belastung geschützt werden sollten, klingt vernünftig.
Nun stellen sich die Fragen: Leiden Kita-Kinder wirklich so sehr unter ihrem Alltag? Welche Auswirkungen hat es, wenn schon Fünfjährige einen vollen Terminplan haben, selten spielen dürfen, wann sie wollen, und die Eltern höchstens mal zum Gute-Nacht-Sagen sehen?
Um das herauszufinden, haben wir mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort gesprochen. Bekannt ist er vor allem wegen seiner Forschung über Erschöpfungsdepressionen – oder Burnout – bei Kindern und Jugendlichen geworden.
Im Interview erklärt er, wo der Leistungsdruck bei Kita-Kindern anfängt, wie anstrengend Spielen sein kann und ob es eigentlich gut ist, seine Kinder so früh und lange von den Eltern zu trennen.
watson: Erzieherin Ilona Böhnke spricht davon, dass die Leistungsgesellschaft schon in Kitas angekommen ist: Der Alltag ist komplett durchstrukturiert, es bleibt keine freie Zeit mehr zum Spielen, die Kinder werden überfordert. Ist es tatsächlich nicht gut für Kinder, wenn ihre Tagesabläufe so durchgeplant sind?
Michael Schulte-Markwort: Die Strukturierung des Alltags in der Kita ist erst einmal nichts Verdächtiges. Wichtiger ist eher, ob die Kinder überhaupt bereit sind für eine Trennung von den Eltern und ob liebevoll mit ihnen in der Kita umgegangen wird. Ich bin auch grundsätzlich kein Verfechter davon, wenn Kinder in Kitas auf sich allein gestellt sind und Konflikte beispielsweise untereinander selber regeln sollen. Schließlich haben wir Erwachsenen eine Verantwortung den Kindern gegenüber.
Was den Einzug der Leistungsgesellschaft in die Kita betrifft: Im Prinzip spricht nichts dagegen, dass Kinder gefördert werden – das ist nicht gleichzusetzen mit Leistungsdruck. Es gibt ja auch hochbegabte Kinder, die eine zusätzliche Förderung dankbar annehmen. Wichtig ist es jedem Kind individuell gerecht zu werden.
Ist eine Kita denn der richtige Ort, um Kinder zu fördern? Ist es sinnvoll, wenn schon Kleinkinder von Bildungsbereich zu Bildungsbereich geschickt werden?
Solche Bezeichnungen wie "Bildungsbereich Natur" für Draußen spielen dienen meist nur dem Labeling, das klingt für viele Eltern einfach gut.
Spielen ist allerdings immer Lernen, egal, in welchem Kontext es stattfindet. Im Prinzip ist die Kita durch die Lernerfahrung wie ein Arbeitsalltag für Kinder, und Arbeit kann eben mehr oder weniger Spaß machen. Das ist nicht anders als später in der Schule oder im Berufsleben: Der Alltag dort kann anregend sein, aber eben auch herausfordernd – oder überfordernd.
Was kann denn passieren, wenn ein Kind doch mal überfordert ist vom Kita-Aufenthalt? Kann es in diesem Alter schon einen Burnout bekommen?
Burnout ist ja erst einmal keine Diagnose – ich möchte das Erschöpfungsdepression nennen. Kindergartenkinder mit diesem psychischen Leiden habe ich noch nicht getroffen. Ich begegne allerdings immer wieder Eltern, die berichten, wie müde ihre Kinder nach der Kita sind. Die schlafen schon auf dem Heimweg ein oder sind vollkommen überdreht.
Natürlich gibt es auch sehr junge Kinder mit klassischen Depressionen. Die Ursache dafür sollte man allerdings allumfassend betrachten: Wie ist die Situation zu Hause? Hat die Trennung von den Eltern vielleicht zu früh stattgefunden? Denn gerade letzteres könnte dazu beitragen, dass ein Kind sich gestresst fühlt. Wie viel Zeit man in der Kita verbringt und wie ausgelastet man dabei ist, sind nicht die einzigen Faktoren für psychisches Leid.
Wenn die Trennung von den Eltern nun so prägend ist: Wann ist denn der richtige Zeitpunkt, sein Kind in der Kita abzugeben?
Den "richtigen" Zeitpunkt für alle Kinder gibt es nicht. Manche können schon im Alter von einem oder zwei Jahren stundenlang ohne die Eltern auskommen, und dann gibt es ältere Kinder, die das nicht so gut können.
So leiden etwa 30 Prozent aller Dreijährigen, die in den Kindergarten kommen, unter Trennungsängsten – und werden dann trotzdem abgegeben. Das würde man mit Erwachsenen ja auch nicht machen.
Aber was ist, wenn die Eltern nun mal arbeiten gehen müssen?
Das ist natürlich schwierig. Selbstverständlich können es sich nicht alle Eltern leisten, zu Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern. Und auch Mütter und Väter haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Dann geht es manchmal eben nicht anders, als die Kinder in der Kita abzugeben, auch, wenn es ihnen anfangs vielleicht nicht gefällt.
Wenn ein Kind aber die Trennung nicht verträgt und das psychische Wohlbefinden in Gefahr ist, sage ich den Eltern auch deutlich: An dieser Stelle müssen Sie zurücktreten und sich vorrangig um ihr Kind oder um Behandlung kümmern.
Das verstehen dann manche Erzieher aber wiederum nicht. In einem "Zeit"-Artikel schrieb die Autorin Anne Altenbokum kürzlich, dass sie ihr Kind wieder von der Kita abgemeldet habe, weil ihm die Zeit dort nicht gutgetan habe. Dafür wurde sie stark kritisiert, unter anderem von den Kita-Mitarbeitern. Wie sollten Eltern in solchen Situationen reagieren?
Ich möchte Eltern immer dazu anregen, auf ihr Kind zu achten und sich für seine Bedürfnisse einzusetzen. Ich erwarte von den Eltern auch, dass sie ein individuelles Profil von ihren Kindern erstellen. Manche brauchen eben mehr oder weniger Schlaf, reagieren empfindlicher oder weniger empfindlich auf Außenreize – die Eltern wissen in der Regel am besten, was ihrem Kind guttut.
Natürlich erfährt man hin und wieder Gegenwind – das merke ich selbst in meiner Arbeit oft genug: Wenn ich zum Beispiel mit Lehrern spreche, um sie für die Situation der Kinder, die bei mir in Behandlung sind, zu sensibilisieren. Manche Menschen zeigen einfach kein Verständnis für besondere Bedürfnisse der Kinder.
In solchen Fällen rate ich den Eltern: Lassen Sie sich nicht irritieren. Wenn man bei Erziehern, Lehrern oder anderen Instanzen aber dennoch ständig auf Granit beißt, ist der jeweilige Ort vielleicht einfach nicht der richtige für das Kind.