Für die meisten Kinder gibt es eine unumstößliche Gewissheit: Wenn ich nicht weiter weiß, habe ich immer noch Mama. Oder Papa. Die wissen, was zu tun ist. Die werden mich auffangen.
Nicht für Larissa Sarand. "Ich hab früh gelernt, dass es für mich keine Sicherheit gab", sagt die 30-Jährige im Gespräch mit watson.de. "Meine Mutter war psychisch krank und wollte sterben – und mein Vater stand hilflos daneben."
3,8 Millionen Kinder wachsen in Deutschland laut Bundesregierung bei sucht- oder psychisch kranken Eltern auf. "15 Prozent davon sind jünger als 3 Jahre. Und: Die Dunkelziffer ist sicher höher, denn das sind nur die Zahlen diagnostizierter psychischer Erkrankungen", sagt Doreen Leib.
Die Psychologin berät Kinder und Familien mit psychisch erkrankten Eltern und kennt typische Sorgen in diesen Familien: "Kinder suchen die Schuld bei sich, schämen sich und versuchen Konflikte aufzufangen. Das ist sehr anstrengend."
Larissa hofft, dass sie mit ihrer Geschichte das Thema enttabuisieren kann. "Denn eines weiß ich: Das Leben mit psychisch kranken Eltern ist ein einsames Geschäft." Was genau sie damit meint, hat sie uns erzählt.
"Ich habe sehr früh gemerkt, dass ihr Verhalten von der Norm abweicht", erinnert sich Larissa. Als sie erst sechs Jahre alt ist, macht sie mit Anspitzer-Abfall einen bunten Fleck auf den Teppich in ihrem Kinderzimmer. Panisch versucht das Mädchen den wegzuputzen, als sie von ihrer Mutter erwischt wird. "Das hast du doch mit Absicht gemacht, du kleines Miststück", ruft Heike und schlägt auf ihr Kind ein, während Larissas Papa hilflos im Türrahmen steht.
Larissa lernt: Mama ist unberechenbar. "Man muss diese Dinge als Kind irgendwo ablassen", sagt sie heute. "Bei mir half die Flucht in die Bücher." Larissa verbringt ihre Freizeit vor allem in der Bibliothek.
2010 erwischt Larissa ihre Mutter immer häufiger, wie sie ihren Kopf vorm Spiegel hin und her dreht, Kiefer und Wangen betastet. Sie sagt, sie habe Zahnschmerzen und ihr Gesicht sei deformiert. "Mein ganzes Gesicht ist schief! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock! Die linke Seite ist viel dicker und hängt total runter", schreit sie ihren Mann und ihre Tochter an.
Die beiden sind irritiert, denn zu sehen ist: Nichts!
Heike besucht einen Arzt nach dem anderen, doch keiner findet eine Ursache. "Meine Zunge ist so dick, dass ich gar nicht mehr richtig reden kann. Hört ihr das nicht?", sagt sie im März 2011. Und wieder: Kein Befund.
Es ist in ihrem Kopf.
"Für sie war es aber real", sagt Larissa. "Ich habe später hunderte Selfies gefunden, auf denen sie ihr ,schiefes' Gesicht aus allen Winkeln dokumentierte. In böser Absicht gelogen hat sie also nicht, sie hat es ehrlich so gesehen."
Heike wird immer rasender darüber, dass niemand sie versteht. Die Ärzte, die nichts finden? Sind Quacksalber und Geldmacher. Die Familie, die das schiefe Gesicht nicht sieht? Idioten.
Am 28.9. 2011 bricht ihr Stamm-Zahnarzt die Suche nach einem Kieferproblem ab und empfiehlt "dringend die Vorstellung bei einem allgemeinen Schmerztherapeuten mit psychotherapeutischer Ausrichtung". Larissas Mutter ist stinksauer.
Obwohl sie sich nicht therapeutisch behandeln lassen will ist Larissa völlig klar, dass sich die Dämonen ihrer Mutter in ihrer Psyche aufhalten. "Doch wie anmaßend wäre es zu sagen, Mama, das ist nur in deinem Kopf? NUR? Der Kopf ist ALLES. Er entscheidet darüber, wie du Schmerzen empfindest und ob du glücklich bist."
Heike spricht immer wieder davon, nicht mehr leben zu wollen, die Schmerzen ihres entstellten Gesichts seien zu groß.
Larissas Vater steht dem Ganzen hilflos gegenüber. "Er war herzensgut, aber schwach", sagt Larissa. "ICH habe mich über Krankheitsbilder informiert, nach Therapiemöglichkeiten gesucht, Einkaufen und Putzen übernommen – und meine eigenen Probleme weggedrückt."
Nützen tut es nichts. Ihre Mutter weigert sich, zum Psychologen zu gehen und erhält daher nie eine Diagnose.
Larissa sucht heimlich den besagten Zahnarzt auf und schildert (Jahre später) auch ihrem eigenen Therapeuten die Symptome: "Natürlich sind Ferndiagnosen problematisch. Aber beide haben auf eine manische Dysmorphobie (Störung der Körperwahrnehmung) zusammen mit einer Depression getippt. Heute würde ich sagen: Das kommt hin."
Am 17. Oktober 2012 versucht ihre Mutter zum ersten Mal, sich zu töten. Sie wird in eine Psychiatrie eingewiesen. "Aber sobald sie geschnallt hat, dass sie sich selbst entlassen kann, war sie weg", so Larissa. Am 30. Oktober kommt ihre Mutter wieder nach Hause. Kaum zur Tür herein verkündet sie beschwingt:
Als wäre es bei den Sarands nicht kompliziert genug, folgt 2013 die nächste Hiobs-Botschaft: Im Januar wird bei Larissas Vater Darmkrebs diagnostiziert, ihm bleibt nur noch ein Jahr.
Der krebskranke Vater muss aufhören zu arbeiten. "Du weißt, dass dein Vater und ich sterben werden. Bei Klaus erledigt das der Krebs, aber bei mir ist das leider nicht so leicht", erklärt Heike ihrer Tochter.
Larissa ist 26 Jahre alt. Tagsüber geht sie weiter an die Uni, schuftet für ihren Abschluss. "Ich habe mein Leben einfach weitergeführt. Schon aus Protest – so nach dem Motto: Meine Zukunft lasse ich mir von dir nicht auch noch nehmen."
Die Sprüche ihrer Mutter prallen bald schon an ihr ab. "Irgendwann war es für mich normal, dass meine Mutter beim Essen über Suizidmethoden spricht. Es war ein einziger Kreislauf: Sie faselte über ihren Tod und ich über Therapie – wir redeten aneinander vorbei. Wie verrückt das war, begreift man erst später."
Larissa versucht, ruhig zu bleiben, doch es gelingt ihr nicht immer. Ein Abend ist ihr noch besonders in Erinnerung, sagt sie. "Da hat es mir so richtig gereicht."
Während Larissas Vater, inzwischen ein Pflegefall, seinen eigenen Kot erbricht, keift Heike ihre Tochter an: "Ich hätte gerne seinen Krebs. Sehr gerne sogar. Dann würde mich endlich mal jemand ernst nehmen mit meinen Beschwerden, und ich könnte endlich in Ruhe krepieren. Aber dieses Glück bleibt nur deinem Vater vergönnt."
"Ich sagte ihr: ,Du bist ein Unmensch.' Und bin gegangen. Ich konnte es nicht fassen, dass sie neidisch war, auf meinen Vater, dem es so armselig ging." Ein weiterer Tiefpunkt.
Sie sei in diesem Jahr nur noch mürbe gewesen, sagt Larissa heute. Irgendwann spricht sie nicht mal mehr mit ihren Freunden darüber, denn die wissen ebenfalls keinen Rat: "Die Dramen haben sich ja ständig wiederholt, was soll man dazu schon sagen?"
Larissas Vater stirbt am 19. März 2014. Danach wird Heike noch unberechenbarer. Immer öfter ruft sie nachts an und fachsimpelt über Suizidmethoden.
Larissa: "Mit der Zeit raste mein Herz bei solchen Gesprächen immer weniger. Der Schock, der sich einstellte, war nicht mehr so grell und hart wie anfänglich, sondern wurde zunehmend dumpf. Der Mensch gewöhnt sich wirklich an alles."
Am 30. April ruft ihre Mutter abends nochmal an, wirkt ungewohnt ruhig. "Also dann: Tschüss." sagt sie. Am nächsten Morgen findet Larissa sie tot. Die Beerdigungen ihrer Eltern liegen nur sechs Wochen auseinander. Larissa steht da und kriegt nicht eine Träne aus sich heraus. Emotional tot nennt sie das.
Der Zusammenbruch kommt erst Wochen später, als sie ihre Eltern anruft und in der Leitung "kein Anschluss" mehr hört. Mit einem Schlag sickert alles ein. Larissa setzt eine Flasche Wodka an, ohne Glas, und trinkt sich an diesem Abend fast ins Koma. Sie schläft 16 Stunden am Stück.
"Ich wurde magersüchtig und schlitterte in eine Depression", erzählt sie. Erst 2016 fängt sie an, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. "Momentan bin ich so stabil, wie ich eben sein kann", sagt sie. "Ich habe einen Sportzwang, muss 7mal die Woche trainieren. Ich habe keine Zukunftspläne mehr – das Leben macht mit dir, was es will, das habe ich gelernt."
Larissa hat inzwischen ihr Lehramts-Studium abgeschlossen und schreibt einen Blog. "Ich finde es komisch, wenn Leute sagen ,Wie toll, dass du das geschafft hast'. Klingt ja, als hätte ich eine Alternative gehabt", sagt sie.
Dass sie selbst irgendwann eine Depression entwickeln könnte, beschäftigt sie oft. "Auch mein Opa hat sich schon getötet. Das hängt wie ein Damoklesschwert über mir", sagt Larissa. "Ich hoffe nur, dass es mich nie so erwischt, wie meine Mutter."
Ihre Geschichte hat keine Moral und auch keine lehrreiche Lektion zu bieten. "Ich habe es einfach nur überstanden", sagt sie. Sie hofft aber, dass sie mit ihrer Geschichte das Thema enttabuisieren kann.