Deutschland ist im Faschingsrausch. Ganz Deutschland? Nein. Eine gar nicht mal kleine Region lehnt sich dieser Tage zurück und fragt sich, was zur Hölle mit ihren Miteinwohner:innen nicht ganz richtig ist, die sich in quietschbuntem Polyester verausgaben und das zum Brüllen komisch finden.
Karneval. Das soll "Fleisch, leb wohl" bedeuten und ist eine ausufernde Fest- vor der Fastenzeit. Der christlich geprägte Vegetarismus ist zwar so gut wie ausgestorben, die Party nehmen viele Deutsche aber immer noch gern mit.
Das erste Mal hörte ich davon im Fernsehen, denn in meiner Heimatstadt Hamburg existiert die fünfte Jahreszeit schlicht nicht. Ich war etwa sechs Jahre alt. Im Bildschirm waren lauter rotbackige Männer mit Clowns-Outfits zu sehen, die Frauen in knappen Kleidern Medaillen verteilten. Es wirkte wie ein sehr langer Altherrenwitz.
Ich raffte den Charme davon nicht. Zu meiner Verteidigung: Als Norddeutsche hat man einfach keinen natürlichen Zugang zu Fasching, Karneval, Fastnacht oder wie auch immer sie alle heißen. Aber ich habe es ehrlich versucht! Ich schwör's.
Denn eigentlich müsste ich mich für so etwas begeistern können. Ich liebe Feste. Ich feiere Weihnachten groß, Ostern auch, das Oktoberfest, Halloween, Valentinstag – ja, ich hatte sogar mal die Idee, Thanksgiving in meinem Freundeskreis zu installieren (mit mäßigem Erfolg)!
Doch Karneval ist für mich wie ein endloser, zäher Witz ohne Pointe. Ein Mittermeier-Comedyabend. Das Feiertags-Äquivalent des tumben "Nun lach doch mal"-Typen.
Zweimal war ich im Rheinland, weil mir Menschen den humorlosen Fischkopp austreiben wollten. Das erste Mal bin ich über das Kopfsteinpflaster von Köln gestolpert, ließ mich in Bars befummeln und trank bunte Schnäpse, die ihre 99 Cent nicht wert waren. Alles roch nach Plastikhaaren und Kotze. Eine olfaktorische Erinnerung, die mir noch heute bei jedem "Alaaf" den Magen zuschnürt.
"Du musst das anders angehen", wurde mir danach erklärt. "Politisch. Mit MIR wird dir das Spaß machen." Und so ließ ich mich ein zweites Mal überreden. Zu einem Karneval in einem Düsseldorfer Studentenwohnheim. Das wirkte für eine Weile ganz lustig, bis der Abend später und die Parolen auf der Tanzfläche rechtslastiger wurden.
Ich dachte, ich spinne. Ein Austauschstudent streckte unter dem Jubel der Masse den Arm im Takt zum Hitlergruß aus, um sich anzubiedern. Fanden alle lustig. Ein junger Typ hatte sich braune Schuhcreme ins Gesicht geschmiert und einen Turban aufgesetzt. Fanden auch alle lustig. Ich hingegen hatte "offenbar einfach keinen Humor".
Das dritte Mal war ich in Berlin und feierte mit Exil-Rheinländer:innen auf dem Kurfürstendamm. Auf den Wagen bunte Menschen in Zwangslaune, die spanischen Reisegruppen "Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche" entgegenschrien. An den Seiten Passant:innen, die Semmel wiederkäuend glotzten, die Zara-Tüten am Handgelenk baumelnd. Selbst das Funkenmariechen zündete nicht. Es war schlimm, dabei zuzusehen.
Ich gab auf. Die Faschingszeit, so resümierte ich, ist im besten Fall wie eine gigantische Schlagerparty in Kostümen. Im schlechtesten Fall eine politisch aufgeheizte Veranstaltung, bei der Frauen unter dem Deckmantel von Bützjes auf die Pelle gerückt wird. Die ganze Angelegenheit machte mich nicht beschwingt, sondern nur sehr, sehr müde.
Vielleicht kann man den Hype einfach nicht verstehen, wenn man nicht in den entsprechenden Gegenden aufwächst. Denn: Der Karneval ist eng verbunden mit dem Katholizismus und der ehemaligen Ständegesellschaft der Region.
Direkt vor der Fastenzeit sollten die Menschen sich ausgelassen dem Essen und dem Sex widmen. Die letzte Party vor der Selbstgeißelung sozusagen. Auch gesellschaftliche Normen wurden fallengelassen.
Der Bauer durfte also mit der Adeligen hinterm Schuppen koitieren und sich ungestraft über Autoritätspersonen lustig machen – eine Tradition, die sich in Büttenreden und satirischen Plastiken gehalten hat. Die Obrigkeit ließ die Bevölkerung zumeist gewähren. Aus einem einfachen Grund:
Der Karneval wurde zugelassen, damit das Volk den Rest des Jahres nicht aufmuckt.
Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass auch heute noch gerade begeisterte Karnevalist:innen häufig den Rest des Jahres ultrakonform leben. Als Lokalreporterin saß ich einige Male bei Karnevalstruppen dabei.
Die Brittas, Sabines und Wolfgangs, die dort zusammenkamen, um beim Piccolo in die Tröte zu pusten, ließen sich am besten mit einem Wort beschreiben – brav. Sie nannten sich selbst "verrückte Nudeln", führten aber im höchsten Maße angepasste Leben. Was okay ist. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Doch es ist genau dieser harte Kontrast, der dazu führt, dass mir beim Karneval allzu oft das Lachen im Hals stecken bleibt. Ich sehe die Feiernden und denke: Schade, dass du zum Ausrasten eine abgesteckte Zeit und eine Maskerade brauchst. Dass du die Rückendeckung eines ganzen Karneval-Vereins benötigst, um ungehemmt zu knutschen und zu protestieren.
Karneval ist der kontrollierte Aderlass von Gefühlen, mit denen sich die Bevölkerung das ganze Jahr herumschleppt: Wut auf "die da oben", manchmal auch auf "die da unten". Die verbotene Lust auf Sex, Zucker und Alkohol.
Die Erlaubnis, diese Gefühle auf der Straße auszuleben, erteilt man sich in 2024 vom 8. bis zum 13. Februar. Ein sehr enger Rahmen, der oft extrem ungesund gesprengt wird. Ist das etwa diese frohnaturige Ausgelassenheit, von der so oft die Sprache ist?!
Ich sage: Narrenfreiheit braucht kein Datum, kein Helau und auch kein buntes Plastik. Es ist eine innere Einstellung, die jeden Tag ein wenig für sich beansprucht werden sollte. Und damit verabschiede ich mich mit der ersten und letzten Büttenrede meines Lebens.
Die Narrenfreiheit wird gefeiert
am Rhein im Süden und in Hessen.
Es wird gesoffen und gepimpert
und jede Menge Fleisch gegessen.
Wenn alte Männer Reden schwingen
und Schnaps die Menschen tanzend macht
– bin ich zu streng, wenn ich vermute
dass mancher aus Verzweiflung lacht?
Denn allzu schnell ist sie vorüber
die zwangskomische Fastnachtszeit.
Was bleibt uns dann am Ende über
von dieser Freude weit und breit?
Rein gar nichts. Das ist mein Gefühl.
Ein Kater nur – und Plastikmüll.
Zurück geht's in den alten Trott,
und jeder Narr zieht aus die Hüll'.
Dann trägt der Nachbar wieder Anzug
und seufzt, weil so gelöst er war.
Mein kleines Herz möcht' ihm was flüstern:
Der Mensch ist frei – das ganze Jahr.