Nichts ist so aufregend, wie der erste Kuss mit einem Menschen, den man wirklich will. Er ist das klare Signal, dass hier mehr geht als Freundschaft und schon deshalb geil, weil er das Kopfkino startet für alles, was noch möglich wäre.
Dieses Gefühl des ersten Kusses wird nur von einer Sache überholt – dem köstlichen Moment davor.
Es hat im besten Fall etwas wahrhaft Überirdisches, wenn sich zwei Menschen Stück für Stück nähern und alles intensiver wird, als ob jemand den Lautstärkeregler hochdreht.
Eine Hand im Nacken, die erst sanft, dann sicher zufasst; die Haut des Anderen, die so verflucht nahe ist; hörbarer Atem; der Geruch von warmem Hals; das Treffen auf eine Unterlippe, die sich anfühlt wie ein saftiges Stück Mandarine, in das man beißen will.
Ein Grinsen, ein Flüstern.
Weil dieser Moment derart schön ist, gibt es nichts Traurigeres, als einen Menschen, der ihn aus Gier überspringt. Zum Beispiel, indem wie aus dem Nichts der Kopf gepackt wird und die Zunge in den Mund geschoben. Pfui!
Weil das passiert, und zwar immer wieder, werden in Online-Debatten und unter (S)Expert:innen Stimmen lauter, die sich eine Konsensfrage nicht erst im Bett, sondern schon vor dem ersten Kuss wünschen. Zu Recht, wie ich heute finde. Das war aber nicht immer so.
Wie vermutlich vielen Menschen kam mir die Konsensfrage vor dem Kuss lange spießig vor. Ich dachte an eine maximal verklemmte Situation, garniert mit einer Prise Bürokratie. Aus einem der wenigen Augenblicke im Leben, in dem der Kopf Pause hat und nur Herz und Libido entscheiden dürfen, soll ich mich auf Sachebene herunterreißen lassen? Wie unsexy.
Klar. War doch auch mein Hetero-Kopf vollgestopft mit uralten Erzählungen vom "echten Mann", der sich einfach nimmt, was er will.
Ein Narrativ, das sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Nur selten wird zum Beispiel in Filmen und Serien nach Konsens gefragt. Die meisten Küsse entstehen aus einem wortlosen Moment der Erregung und – natürlich – durch den Mann initiiert. Siehe "One Day", siehe "The Notebook", siehe "Fifty Shades of Grey". Der Mainstream scheint das sexy zu finden und mich hatten sie auch schon so weit ...
Doch nach genauer Betrachtung meiner eigenen Liebesbiografie muss ich mich vollständig korrigieren!
Denn ohne mein Alter verraten zu wollen: Schon lange vor Einführung der US-amerikanischen Kampagne "consent is sexy" bin ich von Männern geküsst worden – nicht zu knapp.
Und eines wurde mir nachträglich klar: Die selbstsichersten und heißesten unter ihnen haben immer nach Konsens gefragt. Verbal! Und das kein bisschen verschämt: "Willst du mich?" ist eine angemessene Frage in einem erotischen Setting. "Ich will dich unbedingt küssen! Zuerst auf den Mund und dann überall sonst", funktioniert auch, wenn (!) danach ausreichend Raum gegeben wird, um zu reagieren.
Ich selbst habe einen Ex-Freund damals um Konsens gebeten, als ich 17 Jahre alt war und er sehr schüchtern. "Ich denke seit Wochen darüber nach, wie es sich anfühlt, dich zu küssen", sagte ich zu ihm auf einer Party. "Darf ich?"
Also Ja. Es ist möglich, Menschen um Konsens vor dem ersten Kuss zu fragen, ohne dass es befremdlich wird. Wir müssen nur aufhören, uns das wie einen Gang zur Behörde vorzustellen.
Natürlich kann es reizvoll sein, stillschweigend zu wissen, was gleich passiert. Es kann aber noch viel heißer sein, das Offensichtliche auszusprechen. Tausend Arten gibt es, sich Konsens einzuholen. Vom Teasen ("Willst du wirklich, dass ich dich küsse? Ja? Sag es!") bis hin zur sanften Ankündigung ("Schließ die Augen, denn ich will dich gleich küssen").
Meiner Meinung nach ist es weniger entscheidend, wie explizit gefragt wird, als dass die Antwort dann auch gilt. Denn auf ein "Nein" – ob verbal oder non-verbal – folgen viel zu oft Überredungsversuche (macht es nicht anziehender) oder Beleidigungen (alles schon erlebt). Auch das vielleicht ein Grund, warum einige Frauen eine so eindeutige Frage scheuen. Sie ist konfrontativ.
Die Hoffnung: Wenn er nicht fragt, muss ich mich nicht äußern, ist aber bitter. Und die Annahme: Wenn ich nicht frage, kann sie nicht ablehnen, selten dämlich. Wie viele unangenehme Knutschereien sind wohl auf diese Art schon zustande gekommen?
Die Schönheit des ersten Kusses ist es wert, dass wir über unseren Schatten springen.
Ja, Menschen mit sehr viel Feingefühl können aus nonverbalen Signalen herauslesen, ob ein Kuss genehmigt wurde oder nicht. Aber ganz ehrlich: wer über so viel zwischenmenschlichen Swag verfügt, wird auch keine Probleme haben, eine Konsensfrage sexy einzubauen!
Und wer nicht über diese soziale Kompetenz verfügt, sollte erst recht fragen.
Wie oft bin ich schon "aus dem Hinterhalt" geküsst worden und blieb verdattert zurück, weil ich doch nur freundlich war. Schon mehrfach wurde ich unvermittelt auf eine Theke gehoben oder gegen eine Wand gedrückt und abgeleckt, ohne Vorwarnung. Das ist nicht heiß, sondern völlig cringe, weil es wie Performance wirkt und im schlimmsten Fall richtig Angst macht.
Wir müssen wegkommen von der eingerosteten Vorstellung, dass Menschen bei gutem Sex nicht sprechen; dass es romantisch sei, alles zu erspüren. Wie viele Menschen sind so ultrasensibel, dass sie das können? Wie viele Leute kennen uns überhaupt so in- und auswendig, dass sie sich das anmaßen dürften? Das letzte Bumble-Date vermutlich nicht.
Wer selbstbewusst ist, respektvoll und schlau, wird sich Konsens holen, davon bin ich inzwischen überzeugt. Die Männer, die es bei mir getan haben, hatten damit kein Problem. Sie wollten die Antwort sogar gerne hören! Es schmeichelte ihnen. Zu Recht.
Ist es nicht geiler, zu wissen, dass das Gegenüber richtig Bock auf dich hat und nicht einfach nur überrumpelt wurde, wie ein geschossenes Reh?
Was mich zu einem weiteren Ratschlag in puncto Kuss-Konsens führt: Wer die Pause vor dem Kuss tatsächlich als störend empfindet, kann nämlich auch vorgreifen.
Wer sagt denn, dass ein Part passiv warten muss? Es wird meiner Erfahrung nach dankbar angenommen, wenn Konsens proaktiv gegeben wird – auch wenn man selbst geküsst werden will. Viele Frauen sind da ja traditionell, I don't judge.
"Vorsicht, sonst lass' ich mich am Ende noch von dir küssen", bringt das Thema schon mal auf den Tisch. Auch "Hast du Lust mich zu küssen?" hilft einem schüchternen Date auf die Sprünge. Ein simples "Küss mich", wenn die Nasenspitzen sich eh schon berühren, tut es auch.
Macht es nicht so kompliziert. Sagt, wann ihr Bock habt zu knutschen und wen und warum. Das ist nicht peinlich, das ist heiß. Und damit: geht raus und holt euch Konsens!