Seit dem letzten Album von Rammstein, "Liebe ist für alle da", sind knapp zehn Jahre vergangen. Am Freitag, den 17. Mai, ist nun das lang erwartete siebte, unbetitelte Album der deutschen Band erschienen. Wir haben vorab schon mal reingehört und festgestellt, dass sich die Platte anfühlt wie ein nicht eingelöstes Versprechen.
Dieses Versprechen hatte uns Rammstein mit "Deutschland" und der erneuten Veröffentlichung des umstrittenen Musik-Videos zu "Stripped" gegeben. Doch sie haben es nicht erfüllt.
Dennoch, das vorneweg: Es ist ein gutes Album, eins das viele Fans glücklich machen wird.
Aber: Es hätte ein großes Rammstein-Album werden können.
Aber der Reihe nach...
Seit 2016 sitzen die Fans von Rammstein auf heißen Kohlen. Da spielte die Band live "Ramm4" und damit erstmals neues Material. Auf das neue Album hat es das Lied übrigens nicht geschafft. Aus Fan-Kreisen schlugen der Band damals gemischte Gefühle entgegen. Für die einen war der Song, der eine Aneinanderreihung von bis dato erschienen Zeilen und Songtiteln der Band war, zu stumpf. Für die anderen war er ein Ohrwurm.
Die Single war DER Countdown für das kommende Album. Inhaltlich, optisch und musikalisch eine Mahnung. Ein Song, der unter Kritikern für heftige Debatten sorgte und der "mehr" Rammstein nicht hätte sein können. Doch wer hoch steigt, der kann tief fallen. Und es ist ein Fall, wenn auch ein kleiner.
"Deutschland" ist nicht nur der Opener des Albums und die erste Single-Auskopplung, sondern auch der Song, den sich die Band als Maßstab für alle Folgenden gefallen lassen muss. Und genau das ist das Problem: Kein anderer der insgesamt elf Titel kann da mithalten.
Inhaltlich trifft der – fast schon auf erschreckende Art und Weise zur Gewohnheit gewordene – Rammstein-Grusel auf Inhalte wie aus Nachdenkliche-Bilder-Mit-Sprüchen. "Weit weg" enthält beispielsweise solch pseudo-poetische Zeilen, die wir so auch auf einem mittelmäßig erfolgreichen Instagram-Profil eines Millennials unter super-inszenierten Bildern lesen könnten. Genauso gut könnten sie aber auch aus der Feder eines traurigen Jungen mit Gitarre, wie etwa Philipp Poisel, stammen. So, wie wir es eben von Rammstein kennen:
Ähnlich "tiefgründig" geht es bei "Tattoo" zu.
Auf lyrischer Ebene retten nur die folgenden Zeilen das Kalenderspruch-Reime-Klischee:
Denn hier wird deutlich: Das lyrische Ich ist ein Mensch. Genauer gesagt ein Mann-Mann. Ein in seiner Männlichkeit sehr gekränkter Mann. Ein hässlicher und böser Mann. Ein Rammstein-Mann.
Dieser Rammstein-Mann taucht noch in drei weiteren Songs auf. In "Sex" wird dem lyrischen Ich zwar "schlecht", wenn er das "Geschlecht" erblickt, doch den Sex – den liebt er doch. In Songs wie diesem finden wir sie. Die gewohnte, massentaugliche Fleischeslust von Rammstein gepaart mit Zeilen, die so auch von der einen anderen sehr erfolgreichen deutschen Band, den Toten Hosen, kommen könnten. Auf einer Schunkel-Skala würden beide dieselbe (hohe) Punktzahl erreichen.
In "Was ich liebe" singt Till Lindemann:
Es ist der alte Widerspruch von Liebe und Hass, über den Rammstein seit Beginn ihrer Karriere da singen. Die alte Koexistenz der beiden untrennbaren Gefühle. Das ist zwar immer ein bisschen anders, und doch immer erwartbar gleich. In "Diamant" heißt es:
Was dem Album fehlt sind Songs, die Grenzen überschreiten. Songs wie:
Vielleicht wird es im Jahr 2019, in einer Zeit, in der Musiker auf Menschen einprügeln und sich mit Schusswaffen und Drogen auf Instagram zeigen, auch zunehmend schwerer, den Konsumenten von Rockmusik noch mit Sex und SM zu schocken. Vielleicht sind die Musiker von Rammstein –inzwischen sind alle um die 50 Jahre alt – auch einfach ein wenig zu altersmilde für den nächsten großen Skandal geworden.
Zwei Titel finden sich auf dem neuen Album, die alten Provokationen inhaltlich noch am nächsten kommen. Das sind "Zeig dich", das sich mit dem aktuellen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche beschäftigt. Ein Thema das wahrlich niemanden mehr vor dem Ofen hervorholen dürfte, auch wenn es sakral von einem Kirchenchor eingeleitet wird und mir einer Menge finsterer V-Wörter sehr konkret wird:
Und dann ist da noch "Hallomann", das inhaltlich an das grandiose "Jeanny" von Falco erinnert, ist auch hier das lyrische Ich der Entführer eines Kindes.
Zugegebenermaßen. Gleich zu Beginn sorgt das gruselig von Lindenmann gehauchte:
für ein Schaudern im Nacken und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Ein Song der erahnen lässt, dass Rammstein das doch noch kann, das mit der Provokation.
Auf einer völlig anderen Ebene interessant ist der Song "Ausländer". Denn darin geht um ein lyrisches Ich, das deutscher Staatsangehöriger (und nicht der erwartete Ausländer) ist und der unentwegt auf Reisen ist.
Globalität, statt Nationalität – Zeilen, die man als Zeichen gegen Rechts deuten könnte, wenn man denn wollte. Ist doch der moderne Weltenbürger ein klares Feindbild eben dieser. Einmal mehr: Man könnte es so deuten, muss es aber nicht, wie diese klischeehaften Zeilen zeigen:
Was auf textlicher Ebene auf Albumlänge etwas eintönig und langatmig daher kommt, macht "Rammstein" auf musikalischer Ebene wieder wett. Das neue Album kann als ein musikalisches Best-Of der gesamten Bandgeschichte gelesen werden.
Fanherzen dürfte diese Tatsache freudig, ja seelig zurücklassen. Hinter all dem Sex, der Pädophilie, der Liebe und dem Schmerz liegt ein musikalisch oft harmonisches, melodisches und manches Mal tanzbares, meistens aber eher stampfbares Bett, welches nie an der gewohnten Härte, inszeniert durch wuchtige Drums und fette Elektronik, vermissen lässt.
Hier eine Auswahl der musikalischen Vielfalt auf dem neuen Album von Rammstein:
Das neue Album ist gut, doch für ein großes Album fehlen ihm, auch nach mehrmaligen Hören, zwei entscheidende Dinge:
Zum einen kommt es ganz ohne großen Aufreger aus – "Hallomann" kommt Aufreger-Werken wie "Ich tu dir weh" da noch am nächsten.
Zum anderen mangelt es dem Album an der Tiefe, die "Deutschland" durchaus hatte. Denn: Mit dem Album haben "Rammstein" es erneut verpasst, ein Signal zu setzen. Ich hätte mir ein Statement wie "Wir wollen nicht, dass Nazis unsere Musik für sich vereinahmen" von der sonst so unpolitischen Band gewünscht. Denn das müssen sich Rammstein, die Meister der Vieldeutigkeiten, gefallen lassen: Das haben sie nie getan.
In Zeiten, in denen sich selbst Helene Fischer gegen Rechts ausspricht, wäre ein aktiveres Texten, weg von der bewussten Vieldeutigkeit, wünschenswert gewesen. Da ist auch die durchaus amüsante Vorstellung wie Nazis bei der kommenden Rammstein-Tour "Deutschland! Meine Liebe kann ich dir nicht geben!" oder "ich bin Ausländer" grölen werden, nur ein schwacher Trost.
Rammstein hat ein Album im (kleinen) Schatten von "Deutschland" geliefert. Ein solides Album. Eins ohne große Überraschungen, ohne große Enttäuschungen, ohne die große Provokation, aber eben mit dem kleinen, aber dennoch vorhandenen faden Beigeschmack, das mehr möglich gewesen wäre.
"Rammstein" (Vertigo Berlin/Universal) wird am 17. Mai veröffentlicht.