Wer seinen Job verliert, kein oder wenig Geld zur Verfügung hat oder sogar Hunger leiden muss: dem ist unser Mitleid garantiert.
Fällt allerdings das Signalwort "Hartz IV" in diesem Zusammenhang, sieht die Sache meist schon ganz anders aus: Wer Hartz IV bezieht, wird oftmals als Parasit wahrgenommen, der es sich auf Staatskosten gut gehen lässt und eigentlich keine Unterstützung verdient hätte.
Wenn auch die Medien an diesem Bild, das wir von Hartz-IV-Empfängern haben, nicht die alleinige Schuld tragen: Sendungen wie "Armes Deutschland" (RTL 2), "Vera unterwegs" (RTL) oder "Plötzlich arm, plötzlich reich" (Sat. 1) erreichen ein Millionenpublikum und sorgen zu einem nicht unbedeutenden Teil dafür, dass wir Langzeitarbeitslose auf eine bestimmte Art wahrnehmen. Und diese Wahrnehmung ist meist nicht wohlwollend.
Nehmen wir als Beispiel einen Fall, der im April und Mai dieses Jahres bei "Armes Deutschland" gezeigt wurde: Dort war der Protagonist Alex zu sehen, 23 Jahre alt und Hartz-IV-Empfänger. Während der Staffel nahm er die Rolle des "Sozialschmarotzers" ein und wurde gerne eingespielt mit dem Satz: "Für 8,50 Euro pro Stunde gehe ich nicht arbeiten."
Provokante Sätze wie dieser sorgen natürlich dafür, dass sich das Mitleid der Zuschauer in Grenzen hält. Aus dem Kontext gerissen klingt der Satz selbstverständlich nicht sonderlich positiv – warum sollte ich auch Mitgefühl empfinden für jemanden, der so konsequent Arbeit verweigert?
Alex' Darstellung in "Armes Deutschland" ist nicht falsch, allerdings überzogen. Dass er arbeitslos ist, stimmt. Wie er in dieser Situation gelangt ist, wird jedoch nicht erzählt – obwohl am Rande erwähnt wird, dass Alex mit 16 schon obdachlos gewesen ist und wahrscheinlich einen eher schwierigen Start ins Leben hatte.
Das Wie und Warum fehlt jedoch in der Sendung, um beim Zuschauer Mitgefühl zu erzeugen. Stattdessen wird lediglich die Konsequenz präsentiert, und die fällt nicht gerade erfreulich aus. Mit fatalen Folgen für die Protagonisten: Denn die müssen nach Ausstrahlung der Shows das harte Urteil der Massen ertragen.
So war es auch beim "Armes Deutschland"-Protagonisten Alex. Natürlich war es schwierig, in Anbetracht der negativen und wertenden Darstellung seiner Person Mitgefühl mit ihm zu empfinden. Dementsprechend sind auch die "Fan-Mails" ausgefallen, die Alex nach Ausstrahlung der Sendung erhalten hat:
So unsympathisch einige von Alex Aussagen auch gewesen sind: Ernsthaften körperlichen Schaden muss man ihm jetzt auch nicht wünschen. Warum dann also diese Wut?
Vor Kurzem erst hat sich der Protagonist Alex bei der Redaktion von watson gemeldet, um über seine Erfahrung mit der Sendung zu sprechen und seine Seite der Geschichte zu erzählen. Um seine Darstellung in der Show zu korrigieren und möglicherweise auch Mitgefühl beim Leser zu erwecken. Der Beitrag wurde jüngst auf watson veröffentlicht.
Der Schuss ist teilweise nach hinten losgegangen. Sehen wir uns die Reaktionen der User auf unseren Beitrag an, herrscht trotz seiner Erläuterungen teilweise immer noch kein Verständnis für Alex' Situation:
Wer solche Kommentare liest, bekommt schnell den Eindruck: Der Hartz-IV-Empfänger ist zum Feind geworden. Allein die Bezeichnung ist ein Reizwort, dass bei manchen Menschen blinde Wut auslöst.
Woher kommt aber die Wut ausgerechnet auf Menschen, die sowieso schon am Existenzminimum leben und deren Mittel dadurch eingeschränkt sind, uns aktiv zu schaden?
Einerseits liegt der Grund bestimmt darin, dass wir es anderen nicht gönnen, nichts für ihre Existenz zu tun, wenn wir uns selbst abrackern. Uns fehlt oftmals das Verständnis für Biographien, die erfolglos verlaufen und die wir zudem noch mitfinanzieren sollen. Von außen betrachtet kann man bei Fällen wie Alex schnell sagen: Aber der hätte doch dies tun können und könnte jetzt jenes machen, und der soll sich mal anstrengen.
Wir können aber nicht in Alex' Kopf sehen. Wir kennen nicht die gesamte Biographie, und manchmal sind die Gründe, die Menschen von erfolgreichem Handeln abhalten, wesentlich komplexer, als auf den ersten Blick gedacht. In solchen Fällen müssen wir uns ein bisschen mehr anstrengen, um uns in eine Person hineinzuversetzen – und vielleicht dann erst ein Urteil fällen. Wir müssen ein bisschen mehr Empathie aufbauen, bevor wir in Wut und Hass zerfließen.
Empathie, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitfühlen zu können, ist etwas, dass wir lernen müssen. Das sagte zum Beispiel auch der Empathieforscher Fritz Breithaupt in einem Interview mit der "Welt":
Ist unser Empathieempfinden kulturell geprägt, trägt auch die Medienlandschaft zu diesem Empfinden bei. Medien sind schließlich Teil der Kultur.
Wenn also Armutssendungen wie "Armes Deutschland" uns immer wieder diese gescheiterten Existenzen zeigen, die anscheinend selbst schuld und mit voller Absicht kein funktionierender Teil der Gesellschaft sind, ergibt sich dadurch das Feindbild Hartz-IV-Empfänger, für den wir kein Mitleid mehr haben müssen.
Ich will damit nicht sagen, dass es keine Menschen gibt, die schlechte Dinge tun. Ein Betrüger ist ein Betrüger, der Dieb ein Dieb, und der Tatenlose ist tatenlos. Das steht außer Frage.
Wenn wir die Menschen aber konsequent als Produkt ihrer schlechten Geschichten, ihrer schlechten Entscheidungen verurteilen, verbessern wir die Gesamtsituation nicht. Und darum geht es doch am Ende, oder nicht?
Selbst diejenigen, die am lautesten schreien: "Ich muss faule Menschen mit meinen Steuergeldern finanzieren!" wollen doch am Ende, dass der faule Mensch arbeiten geht? Vorausgesetzt, wir wollen wirklich konstruktive Lösungsansätze für soziale Probleme finden anstatt Sündenböcke, auf denen wir unsere eigene Frustration abladen können.
Jemandem wie Alex ist nicht geholfen, wenn er in "Armes Deutschland" als der Prototyp Sozialschmarotzer herhalten muss. Auch nicht damit, wenn wir ihn in den Kommentarspalten beschimpfen. Bevor man seinen Hass auslässt, könnte man auch erst einmal versuchen, sich in die Situation hineinzuversetzen und zu fragen: Was würde ich tun? Und wenn ich etwas anders oder sogar besser tun würde – warum? Wie kann ich DAS vielleicht vermitteln, anstatt meiner Wut?
Man müsste dann natürlich ein wenig über seinen Schatten springen und seine anfängliche Verärgerung zurückhalten, um zu überlegen, wo das eigentliche Problem liegt. Aber vielleicht fühlt sich ja auch der ein oder andere der wütende Leser besser, wenn er sich auf die eigentliche Frage zurückbesinnt, die doch lauten sollte: Wie können wir Armut in Deutschland bekämpfen und selbst die schwierigen Fälle wieder in die Mitte der Gesellschaft holen?
Ein wenig mehr Empathievermögen könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein.